Die Uhr der Skythen (German Edition)
verdampft.
Nichts ist ihm mehr fraglich.
Er nimmt sich ihre Wärme mit der Entschlossenheit, mit der er just das Wasser getrunken hat. Das Verlangen, das ihn überwältigt, bewahrt ihn abermals vor einem stillen Tod, mit allen Fingern sucht er nach ihrer Haut, als wäre sie mit einem Fluchtplan tätowiert, fragt nicht, in welchem Traum sie jetzt eben lebt, da er ihr mit unzähligen Küssen erscheint, und ihr Atem wird schwer und widerstandslos. Das alles widerfährt ihm völlig willenlos, und doch ahnt er unter der zügellosen Lust, so war es noch nie, daß er sich ohne Skrupel nimmt, wonach er verlangt, aber er spürt ebenso gewiß, für nichts muß er sich schämen.
Als alles geschehen ist, liegen sie schwer atmend ineinander wie zu Tode verletzte Tiere, dennoch sucht ihre Hand in der innigsten Umklammerung die seine, findet sie irgend, als wäre es ihre eigene, und als ihre Finger miteinander verschmolzen sind, beruhigt sich ihr Atem und ihr geschwisterlicher Wille entschläft.
In einem anderen Zeitalter, als sich das Fenster zum Hof als ein mattgraues Viereck hinter den Vorhängen abzeichnet und strömende Geräusche in den Leitungen des Hauses zu hören sind, gleiten sie von der einen Ohnmacht in die andere, finden wieder ineinander, als hätten sie sich niemals voneinander gelöst, als wären sie ein siamesisches Geschöpf, das sich selbst genügt. Das alles begreifen sie instinktsicher ohne ein Wort.
»Welch ein glücklicher Zufall«, flüstert Merreth bloß irgendwann, »daß wir uns getroffen haben.«
»Ich glaube nicht an Zufälle«, antwortet Fokko nur, der es besser weiß. Vielleicht ist das, so denkt er, was wir als Zufall begreifen, so was wie eine höhere Weisheit der Welt, auf einer anderen Ebene quasi, auf der auch der Mechanismus der Uhr funktioniert. Er muß ihr irgendwann davon erzählen, wie er die Uhr genutzt hat, ihren Namen zu erfahren und daß er sich eigentlich schon im Hauptbahnhof von Osnabrück in sie verliebt hat. Er wird ihr die ganz Geschichte erzählen. Aber nicht jetzt.
Als er die Haustür aufschließt, geht das Telefon. Er schaut auf die Standuhr. Es ist Viertel nach zehn.
Er kommt eben von der alten Frau Smit, Hinrichs Tante, die noch immer den Fischhandel betreibt, Smits Fisch & Granat , ein kleiner Laden in einem Hof am Ende der Kirchstraße, wo es vor der Halle, in der der Fisch sortiert, gewaschen und filetiert wird, einen kleinen Verkaufsraum gibt. Dort residiert die zurückhaltende Frau mit den schlohweißen Zöpfen und dem bunten Kittel gewöhnlich, heute freilich nicht, montags gibt es keinen frischen Fisch, da schwitzt sie im Büro nebenan über der Korrespondenz, vor allem, wie sie sagte, über der Steuer, die sie eines Tages auffressen wird wie der große Fisch den kleinen.
Die Bude war immer mein Privatvergnügen, sagte sie, klappte die Buchführung zu und bot Fokko auf einem alten Küchenstuhl Platz. Aber es geht nicht mehr. Das ewige Stehen.
Dann hatte sie ihn eine ganze Weile stumm betrachtet. Wie man ein altes Foto anschaut und versucht, die Gesichter zu erinnern, die Verwandtschaften zu rekonstruieren und die alten Geschichten wachzurufen.
Biste lange wieder da?
Ein Monat. Seit Anfang des Jahres.
Geht’s dem Vater?
Er hatte mit den Händen eine Bewegung gemacht, von der er selbst nicht so recht wußte, was sie bedeuten sollte: Resignation ausdrücken vielleicht oder zumindest Zweifel.
Liegt im Heim und guckt an die Decke.
In Leer, sagt Hinrich.
Ja.
Ist ein Einzelgänger, dein Vater, sagte sie und schaute aus dem Fenster auf den Hof, wo eben der kleine Lastwagen ihres Fischhandels beladen wurde. Schwierig, aber ehrlich.
Er schaute auf seine Finger und nickte.
Deine Mutter ist zu früh gestorben, Fokko. Das ist die ganze Geschichte.
Ja, bestimmt.
Dann hatte sie sich erhoben, offensichtlich, um das unerfreuliche Thema nicht weiter zu vertiefen und weil ihre Finger, die auf das Journal von Soll und Haben trommelten, daran erinnerten, daß sich die Buchführung nie und nimmer allein fortschreiben würde. Trat an das Fenster, um wohl doch nebenher das Verladen der Fischkisten zu beaufsichtigen, und die Finger trieben nun auf der Fensterbank die Zeit voran.
Brauchst Arbeit, sagt Hinrich.
Ja.
Gut. Er hat es dir schon gesagt. Kannst die Fischbude haben.
Ich wollte zunächst…
…die Bedingungen kennen.
Ja.
Sie drehte sich zu ihm und setzte sich wieder. Ihre nervösen Finger fanden unter ihrem Kinn ineinander, und sie schaute ihn an, als
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