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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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hinter der Theke wirkt so verschlissen wie das Interieur aus den Sechziger Jahren, sie raucht eine Zigarette nach der anderen und starrt bei jedem Handgriff auf den Schwarzweißfernseher, auf dem sich ein paar armselige Gestalten schrill und vulgär über ihre vergebliche Liebe streiten. Erst als sie sich durch die Dünen den Weg ins Dorf zurücksuchen, denkt Fokko, die mürrische, heruntergekommene Frau, die sie bedient hat, könnte Doris Dünenbroeck gewesen sein, nach deren harscher Begehrlichkeit er sich einst einen Sommer lang voller Schuld und Scham verzehrt hat. Rasch verscheucht er den Gedanken mit einer diskreten Handbewegung vor seinen Augen, dann fällt sein Blick auf die Uhr am alten Leuchtturm: kurz vor halb fünf.
    »Die Fähre, Merreth!«
    Er fällt in einen leichten Laufschritt, erklärt, es sei bislang nur die Bahn, die sie verpaßt hätten, vielleicht könne man mit einem Taxi rechtzeitig am Anleger sein, ansonsten gebe es noch einen Katamaran, der möglicherweise später fahre, oder eine Verbindung nach Eemshaven, dann sei man wenigstens auf dem Festland.
    »Die Zeit ist uns weggerannt«, sagt er und deutet auf die Leuchtturmuhr, als wäre die mit Absicht schneller gelaufen. Merreth nickt und lächelt. Sie hat es gewußt, denkt er, dann rennt er zum Bahnhof voraus und erkundigt sich, aber es fährt zu dieser Jahreszeit kein Katamaran, keine Fähre mehr, weder nach Emden noch nach Eemshaven. Die Uhr bei der Touristeninformation zeigt zwanzig vor fünf. Vor einer Ampel am Bahnübergang steht ein Taxi mit laufendem Motor. Aber Merreth ist nicht da. Er schaut sich um. Sie kommt aus einem Bäckerladen und hat eine Tüte in der Hand.
    »Nun sind wir rettungslos verloren, Schiffbrüchige«, sagt sie, schiebt eine Kümmelstange aus der Tüte und beißt hinein, daß es kracht. Auf ihren lächelnden Lippen kleben dicke Salzkristalle und ein paar Kümmelsamen.
    »Und nun?« fragt Fokko.
    »Wir schlafen in einem Hotel«, sagt sie und schaut sich um, als wäre sie außer Stande, seine Atemlosigkeit wahrzunehmen. »Zum Beispiel in dem da!«
    Ehe er ihren Vorschlag nur annähernd begreifen, geschweige denn darüber nachdenken oder gar entscheiden könnte, ist sie schon über die letzten Gleise der Inselbahn und im Hotel Rummeni verschwunden, einem wohl hundert Jahre alten Bau mit hölzernen Erkern und Balkonen, hat sich von einer jungen Frau einen Zimmerschlüssel geben lassen, geht durch ein dunkles, mit alten Bildern und exotischem Nippes überfrachteten Treppenhaus voraus in die erste Etage, und Fokko folgt ihr in ein Zimmer mit einem Fenster auf den Hinterhof hinaus, als trüge er lediglich ihr Gepäck.
    In dem düsteren Raum mit den alten Möbeln und den schweren Vorhängen sind sie nun unauffindbar. Eine bleierne Müdigkeit legt sich augenblicklich über sie, als wären sie von der Meeresluft vergiftet. Noch in dieser Nacht werden sie still verscheiden, und erst nach Wochen wird man sie finden, nebeneinander auf dem Totenlager wie aufgebahrt in ihren Alltagskleidern, lediglich ihre Hände berühren sich, und zwei Mäntel über einem Sessel, zwei Rucksäcke auf dem Teppich und zwei paar Schuhe davor scheinen davon zu zeugen, daß sie sich je außerhalb dieser Gruft befunden haben könnten.
    Als Fokko aus dem traumlosen Schlaf erwacht, ist es vollkommen finster und still. Seine Kleider umfangen ihn feucht und schwer wie eine Schale aus Lehm, ein schlimmer Durst frißt ihm das Gedächtnis aus dem Leib, doch ehe er ohnmächtig zurücksinkt, entdeckt er irgendwo in dem schwarzen Universum einen matten Streifen Licht, daran klammert sich sein Erinnerungsvermögen, und es denkt in ihm: die Tür zum Badezimmer.
    Er macht kein Licht. Durch ein Oberlicht fällt ein grauer Schatten in den Raum, der reicht ihm, das Waschbecken zu erkennen, das Wasser laufen zu lassen und mit beiden Händen so lange aufzuschöpfen und in seinen Körper rinnen zu lassen, bis er das Gefühl hat, den Gevatter aus dem Raum gejagt zu haben. Als er das Wasser schließlich abdreht, sind ihm mit eins die Kleider zu schwer, er legt sie sofort vollständig ab, läßt sie auf den Fußboden sinken, und die Kälte umfängt ihn augenblicklich wie eine lange versprochene Zärtlichkeit. In den Fasern seiner Kleidung klebt das alte Leben, so wird es ihm in diesem Moment klar, und als er das Badezimmer verläßt, fällt ein Streifen des schwachen Lichts auf eine Ecke des Totenlagers und den Boden davor, auf dem ihre Kleider liegen, als sei sie in ihnen

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