Die Uhr der Skythen (German Edition)
da ich ja um ein Haar nicht mich selbst, sondern vielmehr sie in ein englisches Gefängnis gebracht hätte. Ich ertappte mich dabei, daß ich mir ein wenig mehr echter Entrüstung ihrerseits gewünscht hätte, daß sie vielleicht aufgesprungen wäre, mir ins Gewissen geredet und verlangt hätte, das Kästchen zurückzubringen. Sie aber saß nun neugierig und, wie mir schien, auch ein wenig stolz neben mir und hielt die Beute in ihren schönen Geigenhänden. Ich weiß, wie widersprüchlich ich empfinde. Es ist der Anspruch des Ganoven auf moralische Zurechtweisung, auf den meine schwarze Seele ein Recht zu haben glaubte, jedenfalls öffnete sie das Kästchen und drinnen lag ein Schmuckstück von einer alten Uhr, die jetzt auf dem Tisch des Hotelzimmers liegt und mir Rätsel aufgibt.
»Gestohlen hat er sie also«, sagt Fokko, legt das Tagebuch neben sich auf die Sielmauer, dreht sich eine Zigarette und schaut sich um. Das, was er sieht, hat an Tiefe verloren, für einen Augenblick kommt es ihm vor, als säße er allein im Mittelpunkt eines fensterlosen Kuppelbaus, die gewölbten Wände sind mit einem realistischen Panorama des Ditzumer Hafens bemalt, und es herrscht eine vollkommene Stille. Wie lange hat er gelesen? Fünf Minuten? Eine Viertelstunde? So etwas wie ein Zeitgefühl kann er jetzt getrost vergessen. Fokko steckt die Zigarette an und verfolgt den Weg, den der Rauch nimmt. Der kräuselt sich über der Glut wie immer, steigt auch eine unbestimmte Strecke weit nach oben und verliert sich irgendwo in der unbelebten Atmosphäre.
Da kommt ihm die Frage in den Kopf, wie sehr die Materie von den Impulse abhängig ist, die von ihm ausgehen. Es ist eine Variante des Tennisball-Experiments. Die Zigarette legt er auf die Mauerkante, springt zur Rückseite hinab und entfernt sich ein paar Schritte. So lange er ihn erkennen kann, befindet sich der Rauch in Bewegung. Sobald er aber weiter entfernt ist, kann er natürlich nicht wissen, was dort geschieht, wohin die Wahrnehmung nicht reicht. Zunächst geht er auf dem Deich zum hinteren Sieltor und betrachtet von da das Schlachtengemälde des Dorffestes. Schwammheimmers rudernde Arme sind durch die Takelage eines Fischkutters zu erkennen. Wenn er nur intensiv an ihn denkt, stellt er sich vor, gerät der Dichter in Bewegung und wird jämmerlich ersaufen. An der Fischbude steht das Paar, schaut ihm nach, der seit einer halben oder ganzen Stunde unterwegs ist, wartet auf den Seelachs, der in der Friteuse wahrscheinlich munter weiterschmort, weil Fokko sie in Gang gesetzt hat. Das kann nicht sein. Dann wäre die Welt seinem Willen unterworfen, er spränge auf das Karussell und könnte es in ewige Rotation versetzen, jede gewöhnliche Uhr, die er berührte oder befragte, würde weiterticken, obwohl die Zeit ihr nicht folgte.
Bei Dünenbroek hinter der Theke, erinnert er sich, steht seit hundert Jahren ein Radio. Er geht rüber in den Gasthof, klettert auf den Tresen und sucht einen Sender mit klassischer Musik. Der Apparat gibt keinen Ton von sich, nicht einmal ein Knistern, bleibt so stumm wie die Leute, die an Dünenbroeks Schanktisch aushalten mit einem halb ausgetrunkenem Glas, das Palaver und die schalen Scherze mittens geteilt auf unbestimmte Zeit.
Auf der Mauer liegt die Zigarette und hat aufgehört zu glimmen. Fokko steckt sie wieder an, nimmt Sparenbergs Tagebuch und liest weiter. Es folgen einige Eintragungen aus der Londoner Zeit, Sehenswürdigkeiten, amouröse Bagatellen und Überlegungen des Autors zu seiner Zukunft: die mit Maria für ein Leben an seiner Seite, dazu seine berufliche, für die er zwischen der Neigung zu wissenschaftlicher Arbeit und der Sicherheit im Lehrberuf wählen zu müssen glaubt.
Es scheint einen Zusammenhang zwischen den beiden Fragestellungen gegeben zu haben, denn Anfang November, sie sind eben aus England zurück, notiert er in einem Absatz, er werde sich Ende des Jahres mit Maria Stüer verloben und nach Ostern folgenden Jahres eine Stelle als Referendar antreten. Die Uhr erwähnt er erst später wieder, da hat er eine Stelle in Osnabrück am Gymnasium Carolinum angenommen, plant ihre Hochzeit für den Spätsommer und notiert im Mai 1957, per Zufall habe er eine unglaubliche Entdeckung gemacht. Die Uhr, die ihm in London bei einem Besuch des Science Museum zugefallen sei, habe sich als ein wirkliches Zauberinstrument erwiesen. Und er beschreibt ausführlich die ersten Erfahrungen, die denen ähnlich sind, die Fokko gemacht hat. Ein
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