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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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schaute mich so innig an, wie es nur eine Frau tut, deren innerste Wünsche sich erfüllen. Sie ist guter Hoffnung! Sie erwartet noch in diesem Jahr ein Kind! Die Freude ist groß, ein Gefühl ungenierten Stolzes bemächtigte sich meiner, und die Flasche Wein mußte ich ganz allein leeren. In der Nacht haben wir in vollkommener Zärtlichkeit zu wiederholen versucht, was man nicht wiederholen kann, und als Maria selig eingeschlafen war, trieb es mich aus dem Bett und an den Schreibtisch, ich wollte das Glück so lange als möglich festhalten, öffnete die Uhr, nahm das Tagebuch zur Hand, der Kopf indes war mir durch den Wein so schwer, das Herz durch das Liebesspiel so leicht, daß ich alsbald in meinem Sessel in süße Träume versank.
    Es war Maria, die mich am frühen Morgen weckte und abermals ins Bett entführte. Es war das erste Mal, daß wir am Sonntagmorgen den Gottesdienst verpaßt haben, heute Abend werden wir freilich die Heilige Messe besuchen und dem Schöpfer für die Gnade danken, die er uns erweist. Erst gegen Mittag bin ich in mein Arbeitszimmer, um in meinem Kopf und auf dem Schreibtisch ein wenig Ordnung zu schaffen, da lag mein Tagebuch geöffnet da und ebenso die Uhr aus dem Fundus des Science Museum zu London! Die Welt aber drehte sich längst weiter! Die Uhr war abgelaufen. Die Ringe standen voreinander wie am ersten Tag, und der magische Mechanismus hatte das Zentrum abermals gedreht, nun ist wieder das Symbol der Nacht zu sehen: der Mond, das geschlossene Auge.
    Ich nehme das als gutes Zeichen. Der Zauber ist vorbei, die bedrohlichen Träume kehren ebenso in das Reich der Phantasie zurück wie die verführerischen, und die Zeit ist wieder das, was sie immer gewesen ist. Vielleicht kommen wir wieder einmal nach London, dann werde ich die Uhr heimlich in den Fundus des Museums zurücktragen. Vorerst aber wird sie in der hintersten Ecke unserer physikalischen Sammlung verstauben. Ich will sie nicht länger in der Wohnung haben.
    »Da hat sie seither gelegen. In den Weihnachtsferien hat ein junger Kollege die Sammlung ausgemistet, und der karge Nachlaß des Physiklehrers Hermann-Josef Sparenberg landete in einem Müllcontainer vor der Schule.«
    Fokko durchblättert die letzten Seiten der Aufzeichnungen. Physikalische Grundsatzfragen werden nicht länger erörtert, in erster Linie beschäftigt den Lehrer die Schwangerschaft seiner Frau, auf der letzten Seite indes findet sich jene melancholische Eintragung, die er im Container gelesen hat: Es gibt keine freie Entscheidung, weil es keine freie Erkenntnis gibt. Wir existieren lediglich in den engen Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit, wir unterscheiden uns in summa nicht von einem Käfer, der über ein Blatt läuft, um in die Nähe eines Sonnenstrahls zu gelangen.
    Trotz dieser letzten, tiefsinnigen Sentenz hat Sparenberg sich erstaunlich wenig Gedanken um die Uhr gemacht, hat vermutlich weder ihrer Herkunft noch einer plausiblen Erklärung für den Zauber nachgeforscht, hat sie lediglich benutzt wie sonst ein hilfreiches Gerät: als hätte jemand vor zweihundert Jahren eine Digitalkamera gefunden.
    Mit einem Mal überkommt Fokko eine mächtige Müdigkeit. Vier Wochen also. Vier lange Wochen wird er allein auf der Welt sein, einen ganzen Monat der letzte Mensch im Reich der Untoten. Abzüglich der Zeitstillstände, die schon verstrichen sind, aber es ist müßig, sie zu bilanzieren, wie er es mehrfach schon versucht hat, vielleicht kommt ein Tag dabei heraus, vielleicht auch mehr, aber das ist eine sinnlose Rechnung. Die Zeit, die ab sofort verstreichen wird, ist nicht einmal an den Ringen der Zauberuhr ablesbar, die im Modder des Ditzumer Hafenbeckens ruht. Er wird sie absolut subjektiv erleben, selbst wenn exakt achtundzwanzig Tage vergehen werden, so wird es ihm wie eine Woche vorkommen oder wie ein Jahr. Der Mondumlauf wird sowieso zu einem irrationalen Maß, weil der Trabant die Kreisbahn um den Planeten nicht vollendet, so lange die Uhr nicht abgelaufen ist. So bleibt ihm nur, sich darauf einzurichten, für eine unbegreifliche Frist mit sich selbst allein zu sein.
    Das kommt ihm im Moment vor wie eine ungeheure Last: als müßte er für die nächsten vier Wochen tagaus, tagein einen Rucksack voller Steine mit sich tragen, niemand wird ein Wort mit ihm wechseln, Merreth nicht, Hinrich nicht, und Eva wird als Fischerwitwe dem großen Schwamm beim Ertrinken zusehen.
    Er legt das Tagebuch beiseite, horcht in die gewaltige Stille, dann geht er

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