Die Uhr der Skythen (German Edition)
liegen kommt. Versucht sie erst in zehn Jahren, wenn die Uhr abgelaufen ist, sich durch das Plastik zu brennen, oder ist sie schon dabei, weil sie just von der Hand des Zeitenherrschers geschleudert wurde?
Es ist die wiederkehrende Frage nach der Grenze zwischen der totalen Paralyse und den eigenen uneingeschränkten Möglichkeiten. Vielleicht hat ja der Kollege Sparenberg eine Erklärung gefunden. Fokko nimmt die Kladde und schlägt sie auf.
Die erste reguläre Eintragung ist vom 8. August 1954: Der Versuchsaufbau, den ich mir vorgestern ausgedacht habe, besitzt einen gravierenden Fehler: die Distanz zwischen der ursprünglichen Lichtquelle und der ersten Linse ist beliebig, durch keine hypothetische Annahme oder gar eine physikalische Regelhaftigkeit definiert. Das Experiment hätte so, wenn nicht die Wellenlänge der Quelle oder ein sinnfälliger Bruchteil derselben das Maß für den Abstand bestimmen, kein ausreichendes Fundamentum. Jeder akademische Rat an einer beliebigen Pädagogischen Hochschule würde mir meinen Aufsatz in tausend Stücke reißen. Das deutet darauf hin, daß Sparenberg schon länger Tagebuch führte, und diese Kladde nur begonnen hatte, weil eine vorherige vollgeschrieben war. Seine wunderbare Handschrift strahlt eine derartig große Ruhe und Sicherheit aus, daß man glauben kann, alles, was auf diese Weise notiert wurde, kann nichts anderes sein als die vollkommene Wahrheit.
Die Lösung des Problems , notiert er tags darauf, ist wie häufig naheliegend und deswegen leicht zu übersehen. Vor dem eigentlichen Experiment muß ich mit dem Versuchsaufbau experimentieren, das bedeutet, ich definiere hinten einen festen Wert der Bündelung, um vorn mit wechselnden Distanzen so etwas wie einen optimalen Ausgangswert festzulegen. Vielleicht ergibt sich tatsächlich die Wellenlänge oder ein sinnfälliger Bruchteil, jedenfalls werde ich dann das eigentliche Experiment mit einem fest definierten Abstand zwischen Lichtquelle und erster Linse durchführen.
So geht es tagelang weiter. Fokko überfliegt die Eintragungen, die lediglich physikalische Hypothesen, Versuchsaufbauten und kleine Rechnungen enthalten. Im November 1954 findet sich ein erster, beinahe versteckter Hinweis, daß Sparenberg tatsächlich als Lehrer gearbeitet hat: Langer Nebelspaziergang durch das Heger Holz und an Gut Leye vorbei, bei dessen Anblick mich wie immer die Wehmut anfällt, in der falschen Zeit zu leben und in ungerechten Verhältnissen, über die südlichen Felder zurück und insgesamt an die drei Stunden unterwegs. Der Nebel ausgesprochen ungemütlich, aber er verhindert den Blick auf freundliche Landschaften, fördert die Konzentration auf das Wesentliche. Die geniale Idee, um deretwillen ich aufgebrochen bin, stellt sich nicht ein, aber ich habe das Gefühl, sie war unmittelbar in der Nähe, wie ein Weggefährte im Nebel, den man nicht sieht, aber spürt. Hätte noch länger laufen sollen, müßte im Moment aufbrechen, da es noch Nacht ist draußen, in den Tag hineingehen, an nichts denken, nichts als laufen, und wenn ich so heimkäme, läge die Idee fertig in meinem Kopf, müßte mich lediglich an den Schreibtisch setzen und sie niederschreiben, aber die Pflicht ruft, die mir jeden Tag schwerer wird, ein sinnloses, lächerliches Unterfangen, mittelmäßig begabten und unzureichend motivierten Halbwüchsigen physikalische Gesetze in die von überschüssigen Hormonen okkupierten Hirne zu deponieren. Alle Kraft, alle Konzentration und Kreativität müßte ich in dieses Projekt investieren, bedingungslos und vollkommen frei von irgendeiner Pflicht. Das wäre ein unverschämter Luxus, gewiß, aber für die Sache nichts weiter als eine grundlegende Voraussetzung.
Das Jahr 1955 ist mit nur wenigen, belanglosen Eintragungen repräsentiert, erst in der Mitte des darauffolgenden Jahres führt Sparenberg wieder regelmäßig Tagebuch, im Juli 1956 findet sich das private Notat über die Liebe zu einer gewissen Maria, das Fokko gelesen hat, als er am Neujahrsmorgen im Müllcontainer saß. Die Geschichte mit dieser Frau schreibt sich für Wochen und Monate weiter, im Oktober reisen sie nach London, wo sie unter anderem das Science Museum besuchen. Dort findet sich der erste Hinweis auf die Uhr: 17.10.56 – Am Nachmittag im Hotel. Maria hat sich aufs Bett gelegt und ist eingeschlafen. Ihr Atem ist so tief, geht so ruhig, daß es mir ein vollkommenes Vertrauen auszudrücken scheint. Wirklich tiefer Schlaf gelingt nur, wenn man
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