Die Uhr der Skythen (German Edition)
zur Fischbude, hängt den Kittel an den Haken und schiebt Sparenbergs Erinnerungen unter die Kasse. Es kann sein, denkt er, daß er nicht in der Nähe ist, wenn die Zeit weiterlaufen wird und das Fest sich fortsetzt, als wäre nichts geschehen. Der milde Wind wird zurückkehren, er wird mit Evas Kleidersaum spielen, die fassungslos dem zappelnden Dichter zuschaut. Hinrich wird, bevor er den Maschinenhebel nach vorn drückt, einen Rettungsring auf das Wasser werfen und Schwammheimer an Bord ziehen. Das Karussell wird sich weiterdrehen, seine Leierkastenmusik wird sich mit der schnoddrigen Stimme des Losbudenbesitzers zu einem einschläfernden Singsang vereinigen und nichts wird geschehen sein, als daß ein alternder Schriftsteller das Gleichgewicht verloren und ein unfreiwilliges Bad genommen hat.
Mit der Fingerspitze tippt er in das Fett. Es ist weder warm noch kalt, besitzt im Grunde genommen keine Temperatur. Fokko dreht die Friteuse ab, dann stellt er sie gleich wieder an. Die rote Kontrolllampe leuchtet auf. Er tippt abermals in das Fett. Nun ist es spürbar warm, beinahe heiß. Mit einem Papiertuch wischt er sich die Finger ab, tritt einen Schritt zurück und beobachtet die Friteuse. Die Lampe leuchtet weiter, das Öl ist leicht zischend zu hören. Solange er im Wagen bleibt, dürfte der Seelachs weiterbraten, entfernt er sich dagegen eine unbestimmte Strecke körperlich oder möglicherweise auch geistig, wird das Gerät mit ziemlicher Sicherheit ausgehen wie die Zigarette auf der Sielmauer.
»Ist das wichtig?«
Eigentlich nicht. Er schaltet die Friteuse ab, nimmt alles Geld aus der Kasse, zieht seinen Parka an, verläßt die Bude und schließt sie ab. Eine Weile schlendert er über das fixierte Fest, dann stellt er sich neben Eva und schaut nach Schwammheimer. Die Gier wird ihm hoffentlich im Halse stecken bleiben, wenn es mit dem Ertrinken weitergeht, und die Uhr wird er nicht wiederfinden, auch wenn er das halbe Hafenbecken ausbaggern läßt. Eva an Fokkos Seite ist aus einem flüssigen Kunststoff gegossen, wenn er aber ihr Haar berührt, gibt es fließend nach, ihre Haut reflektiert seine Wärme und Nachgiebigkeit, und wenn er ihr sehr, sehr nahe käme, könnte er jetzt, ohne daß sonst jemand es wahrnähme, Kontakt zu ihr aufnehmen. Würde sie sich demnächst daran erinnern? Wird er selbst sich an das erinnern, was er jetzt denkt? Gewiß, denn er erinnert sich an sein Erstaunen, als er den Vogel reglos am Himmel aufgemalt sah über den Kleingärten des Gertrudenbergs, spürt noch die Verlegenheit, als er Eva hinter ihrer Theke den Schlüssel aus der Jeans gezogen hat, und die Scham, die er empfand, als sie sich hinter der Fischbude seiner bemächtigte, ist noch doppelt und dreifach in ihm virulent.
Aber auch das ist nicht wichtig.
Zweifellos wird er sich demnächst ebenso an das erinnern, was nun geschehen wird, wie an das, was nicht geschehen wird. Sein Leben geht unweigerlich weiter. Wenn der Zauber nach einem gefühlten Jahr verflogen sein wird, wird Fokko einen Monat älter sein, eben auch in Relation zu allen anderen. Das, was nun kommt, ist ein authentisches Stück seines Lebens, nicht mehr und nicht weniger. Wie der Hunger, der sich jetzt mit der Müdigkeit verbündet, zwei nervöse Spießgesellen, die sich nicht damit abfinden werden, daß die Zeit stillsteht.
In Dünenbroeks Küche könnte er sich an einer Pfanne mit Bratkartoffeln bedienen, auch wird gewiß ein Gästezimmer frei sein, und niemand würde ihn stören, aber, das spürt er in aller Klarheit, das Leben, das ihm bevorsteht, soll möglichst dem entsprechen, was er verläßt. Im Moment des Zeitstillstandes hat die Kirchenuhr sechs geschlagen. Es kommt ihm vor, als klänge die Glocke in ihm nach. Jetzt ist es vielleicht sieben. Oder acht.
Als er Eva zum vorläufigen Abschied berührt, lediglich mit einem Finger am Ohrläppchen, überfällt ihn eine scheußliche Sehnsucht nach der Vergangenheit, gesellt sich rebellisch zu Hunger und Müdigkeit, und er schiebt sein Fahrrad aus dem eingefrorenen Getümmel in die Pfefferstraße, wo es ruhiger ist in der totengleichen Stille. Vor Hinrichs Haus steigt er auf und nimmt den uralten Weg hinter dem Deich: zehntausend Mal gegangen, gelaufen oder gefahren. Er könnte sich sonstwo zum Schlafen legen, ohne Frage, aber er wird es in seinem Bett in Pogum tun, weil es auch um so etwas geht wie die rechte Haltung. Denn er spürt, die Melancholie nähert sich ihm, die schöne, traurige Schwester der
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