Die Uhr der Skythen (German Edition)
Vogel ist im Flug auf das Firmament gezeichnet, die Schüler erstarren im Physikunterricht, ihr Lehrer korrigiert mit einem Fingerschnipsen zweiunddreißig Klassenarbeiten und als er an einem Morgen um drei Minuten vor acht in den Armen seiner Verlobten erwacht, erscheint er dennoch pünktlich zum Unterricht.
Ein paar Scherze hat er sich ausgedacht, einige Nützlichkeiten angenommen, aber er hat nie versucht, sich durch die Zauberuhr materielle oder andere Vorteile zu verschaffen, es ist wenigstens in seinen Aufzeichnungen von keiner einzigen Gaunerei die Rede. Letztlich scheint Sparenberg das Phänomen nur wissenschaftlich wahrgenommen zu haben, genutzt hat er die Uhr in der Hauptsache, um in Ruhe über sie nachzudenken. So schreibt er am 25. September 1957: Ich habe es längst aufgegeben, hinter das Mysterium dieser Uhr zu kommen. Sie hat durchaus die Anmutung eines technischen Gerätes, aber das erklärt in keiner Weise die Kraft, die in ihr wohnt. Sie wird ihre eigene Zeit benötigen, um diesen Zauber an sein Ende zu bringen, weil sich die Ringe sichtbar gegeneinander bewegen, es ist nur leider unmöglich, diese interne Arbeitszeit zu dokumentieren, da in der Phase der Aktivität jede andere Uhr zum Stillstand gezwungen ist. Die Sache ist mir unheimlich, und doch fasziniert sie mich gewaltig. Habe bislang mit keinem Kollegen darüber gesprochen, auch mit Maria nicht. Fürchte, für verrückt erklärt zu werden, außerdem, daß jemand auf die Idee kommt, mit Hilfe des Zaubers anderen zu schaden. Ich nutze die Uhr lediglich, um mir gewissermaßen Zeit zu stehlen, die mir dann ganz allein gehört. Dafür ist es ein hervorragendes Instrument. Ich kann jederzeit eine Pause einlegen, dringliche Geschäfte erledigen oder Versäumnisse nachholen, und mancher Tag besitzt nun für mich 25 oder gar 26 Stunden.
»Vielleicht«, sagt Fokko, »hat er überhaupt nicht begriffen, daß die Uhr auf ihn geprägt war. Wenn er sie niemandem gezeigt, mit keinem darüber gesprochen hat.«
Die geschenkte Zeit , schreibt er am 13. Oktober 1957, ist nicht meßbar. Ich verliere sie auf eine merkwürdig zeitlose Weise, und da sich nun die beiden Ringe um etwa ein Achtel des Umlaufs zueinander gedreht haben, ist es mir eigentlich unmöglich, diesen Abschnitt zu bilanzieren und daraus die Frist des ganzen Zaubers zu errechnen. Bestenfalls könnte ich schätzen, wie viel zusätzliche Zeit mir bisher gewährt worden ist. Es sind zum Beispiel in der Regel zwanzig Seiten, die ich pro Stunde in einem Buch lese, aber auch dieses Maß ist wenig verläßlich, weil ich ja unter dem Einfluß der Uhr nicht die geringste Ablenkung erfahre: also sind es vielleicht gar dreißig Seiten. Dennoch habe ich vor einigen Wochen damit begonnen, wenigstens die Schätzung der ›Zauberzeit‹ zu dokumentieren. Jedesmal, wenn ich sie nutze, lasse ich mein Zeitgefühl einen Wert taxieren und notiere ihn in der Buchführung. So bin ich mittlerweile auf etwa drei bis vier Tage gekommen. Rechne ich das hoch und nehme den Wert trotz aller berechtigter Zweifel für wahr an, so käme ich zum Schluß auf eine Spanne von möglicherweise 25 bis 30 Tage. Als brauchbares Maß kommt mir dazu einzig der ursprüngliche Monat in den Sinn, also ein Mondumlauf, der sich bekanntlich auf etwas mehr als 27 Tage bemißt. Oder womöglich seine von der Erde erfahrbare Zeit von 29,5 Tagen. Wie auch immer, der Zauber ist endlich, und in gewisser Weise werde ich froh sein, wenn das geheimnisvolle Phänomen ein Ende gefunden haben wird.
»Schon Schwammheimer hatte die Idee von der Mondphase«, sagt Fokko nachdenklich. »Das ist wohl ein brauchbarer Gedanke. So werde ich einen Monat lang in der Mitte der tiefgefrorenen Welt allein sein. Und mir wird es wie ihm ergehen. Werde froh sein, wenn es vorüber ist.«
In der folgenden Zeit spricht Sparenberg die Uhr nur noch selten an, notiert gelegentlich einen Zeitgewinn, wenn er Klassenarbeiten korrigieren muß, schläft sich nach einer Feier gründlich aus oder gönnt sich einen Spaß, als er Maria, mit der er inzwischen verheiratet ist und in einer Wohnung in der Nähe des Gymnasiums zusammenlebt, an einem Tag im Januar 1958 ihren Heißhunger auf Käsekuchen stillt, indem er unter dem Schutz der Uhr eine Konditorei aufsucht. Mehr geschieht nicht. Im Sommer des Jahres vollendet sich der Umlauf der Zauberuhr.
Gestern Abend, als ich eine Flasche Wein geöffnet hatte und mit Maria anstoßen wollte, schüttelte sie auf eine beglückte Art den Kopf,
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