Die Uhr der Skythen (German Edition)
Welt?
Merreth kann noch nicht weit sein. Vielleicht auf der Hälfte des Weges nach Critzum. Mit dem Fahrrad auf dem Emsdeich, wo der Wind sie in einer Sekunde verlassen hat, und ob er nun von der Seite kam, aus dem Niederländischen, oder von hinten, von Borkum und England oder sonstwoher, plötzlich verschwindet der Impuls, gegen den man sich stemmt oder der Rückenwind flaut unversehens ab. Rollt das Rad nicht weiter?
Das ist eine alte Frage, wie er sich erinnert.
Ganz zu Beginn dieser irren Geschichte hat er auf der Kreuzung am Hasetorbahnhof in der Stadt Osnabrück einen Radfahrer beobachtet, der alle Impulse gespeichert hatte und mittlerweile mit leichter Schräglage einen schönen Bogen gefahren sein dürfte. Und wenn er selbst einen Stein oder einen Tennisball wirft, fliegt er davon, als wäre nichts. Es läuft nichts aus, wenn die Zeit anhält, es bleibt alles stecken: die Bewegungen, die Absichten und die Gefühle. Die Geschichte schreibt sich nicht fort, versteinert in einer dauerhaften Gegenwart, einzig Fokko entfernt sich aus ihr wie ein Astronaut, der die Verbindung zu seinem Raumschiff verloren hat und allmählich in die Kälte und Unendlichkeit des Alls abdriftet.
Als er das Bierglas zurückträgt, fällt ihm Schwammheimers Auto ein, das bei Dünenbroeks hinter dem Haus auf dem Parkplatz steht. Es ist nicht verschlossen. Seltsamerweise hat er keine Skrupel, den Wagen näher zu untersuchen, rechnet sich vielleicht vor, daß es keine Gaunerei sein kann, einen Gauner zu hintergehen, denkt vielleicht an eine Art Notstand, der außerordentliche Maßnahmen rechtfertigt, in Wirklichkeit hofft er auf eine Erlösung, die er wohl länger schon erahnt hat, und tatsächlich findet er im Kofferraum hinter Evas rosafarbenem Schalenkoffer in einer Aktenmappe eine Kladde, die er wiedererkennt. Es ist jenes bescheidene Anschreibebuch, das Fokko in der Neujahrsnacht schon einmal in Händen gehalten hat, aus einem Pappkarton gefischt, den er im Bauch des Müllcontainers gefunden hat, die Aufzeichnungen eines Mannes, der offenbar lange vor ihm mit der Uhr zu tun hatte. Er schlägt die erste Seite auf. Er erkennt die wundervolle, aber schwierig zu lesende Handschrift wieder: Hermann-Josef Sparenberg. – Da die Zeit in steter Bewegung ist, so steht alles das, was in ihr geschehen wird, von vornherein fest.
»Und da sie nun stillgelegt ist«, kommentiert Fokko dieses unerfindliche Motto, »steht überhaupt nichts mehr fest von dem, was geschehen wird.«
Ansonsten findet sich nichts Interessantes unter Schwammheimers oder Evas Sachen. Er schließt den Kofferraum, steckt die Kladde ein und spaziert auf den Deich zurück. Auf der Mauer, die vom Sieltor Richtung Yachthafen wegläuft, findet er einen Platz abseits des tiefgefrorenen Festtrubels. Er setzt sich hin, legt Sparenbergs Aufzeichnungen neben sich und dreht sich eine Zigarette. Über dem Hafen liegt noch immer dieselbe Stimmung. Die Kutter sind festgemacht, das Heck der Fähre ist zu erkennen, und das jenseitige Ufer der Ems strahlt im güldenen Abendlicht. So wird es bleiben.
»Hermann-Josef Sparenberg«, sagt Fokko. Es geschah gewiß am Ende jener einen Nacht, die er in Schwammheimers Haus verbracht hat, draußen an der Bahnstrecke, Anfang des Jahres, als er eben die Uhr und ihren geheimnisvollen Zauber entdeckt hatte, da hat der noble Freund die Wirtin diskret beehrt, vielleicht war er auch wirklich in der Frühmesse, um wenigstens einen Teil seines Sündenregisters abzugelten, auf jeden Fall hat er sich auf den vorderen Hof des Gymnasium Carolinum geschlichen, um vor dem Morgengrauen und der Müllabfuhr den Karton aus dem Container zu stehlen, in dem neben der Kladde der restliche Sparenbergschen Nachlaß zu finden war: seine Brille, das Schlüsselbund, die Federmappe, die Tabakspfeife und etliche Lehrbücher der Physik. Vielleicht hat er in jener Nacht auch alles drei erledigt, im Schutz der Finsternis das Sparenbergsche Erbe stiebitzt, im Hochgefühl, die Büchse der Pandora in seinem Besitz zu haben, wenigstens eine Art Anleitung dazu, hat er in der Blauen Stunde die Lebensgefährtin eines alten Weggefährten beglückt und anschließend mag er tatsächlich noch im Hohen Dom gewesen sein, um die befleckte Seele reinzuwaschen. Nun soll er ruhig, wenn die Uhr abläuft, ein paar Minuten in Todesnot zappeln, der gute Geist!
In einem eleganten Bogen schnipst Fokko die Kippe auf das Deck eines Segelbootes, wo sie ausgerechnet auf einer durchsichtigen Luke zu
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