Die Uhr der Skythen (German Edition)
Freude.
Frau Freesemann steht mit einem Huhn auf dem Arm vor ihrem Grundstück im goldenen Abendlicht. Es ist wie ein idyllisches Gemälde. Fokko lehnt das Fahrrad gegen die Hecke, tritt näher heran und äugt in das Auge des Vogels. Es ist nur sein gestrecktes Spiegelbild zu sehen, mehr nicht. Aber ist ein Huhn vielleicht so etwas wie ein Apparat? Er nimmt es der Nachbarin vom Arm und hält es in den Händen. Es fühlt sich an wie ausgestopft. Er schnipst ihm gegen den fleckigen Schnabel, zwickt es in den weichen Bauch und zupft eine kleine Feder aus, aber nichts geschieht. Er könnte es schlachten und rupfen, er könnte es kochen und essen, aber würde es schmecken wie sonst ein Suppenhuhn?
»Das wäre einen Versuch wert«, sagt er, zwinkert dem reglosen Knopfauge zu und verstaut den Vogel wieder auf Frau Freesemanns Arm. So werden sie für einen Monat hier stehen, und wenn die Uhr abgelaufen ist, wird das dumme Huhn gackern und die alte Frau in die Abendsonne blinzeln.
Er will nichts mehr denken. Macht sich ein Brot, ißt einen Apfel, trinkt noch ein Bier und legt sich schlafen.
Aus einem grabestiefen, traumlosen Schlaf glaubt Fokko van Steen zu erwachen, benötigt eine Weile, sich zurechtzufinden, tritt an das Fenster, zieht die Jalousie hoch und schaut über den Garten und das flache Land. Das Licht ist wunderbar klar, die Stille läßt auf eine frühe Stunde schließen, die Schöpfung hält für einen Atemzug inne, ehe sie ihr Tagewerk beginnt, da fällt ihm der Traum ein, den er geträumt hat, von einem wilden Tanz mit einer weiblichen Schimäre, in dem es in einem fort und todesstill um nichts anderes ging als die rasende Bewegung der Vereinigung, dann sieht er draußen einen Spatzen mit gesenktem Schnabel auf dem Rand eines alten Suppentellers balancieren und erinnert sich, daß das Pensum der Schöpfung für diesen Tag getan ist: es ist und bleibt der 9. April, kurz nach sechs am Abend.
Ihm ist es unmöglich, auch nur annähernd zu schätzen, wie lang er geschlafen haben mag, ob es eine einzige heilkräftige Stunde war oder sieben oder acht oder gar einmal ganz um die Uhr, die sich nicht mehr dreht. Der Hunger allerdings, den er vor dem Zubettgehen besänftigt zu haben glaubte, der sich wiedererwacht auf frische Brötchen mit guter Butter kapriziert, deutet eher auf acht Stunden Schlaf hin, ebenso der Drang sich zu erleichtern, und als er auf der Toilette eine Zeitung vom 1. April findet, sie durchblättert und sich befragt, was von dem, was dort zu lesen steht, authentische Vergangenheit, was Scherz gewesen sei, kommt ihm der deprimierende Gedanke, daß ab sofort seine Verdauung die einzig brauchbare Zeitmessung darstellen wird.
Auf jeden Fall wird er den Schlaf, der just hinter ihm liegt, gewissermaßen als eine gültige Ruhezeit begreifen, die er zwar nicht messen und per Stundenfrist verbuchen kann, aber wenn er, so überlegt er, quasi Tag für Tag wartet, bis er regelrecht müde ist, sich dann so lange schlafen legt, wie es geht, so dürfte er nach den biologischen Gesetzmäßigkeiten im Laufe der stillstehenden Zeit sich einmal pro nicht meßbarem Tag zur Ruhe begeben. So er also dokumentiert, wie oft er schläft, besitzt er wenigstens ein ungefähres Maß für die Zeit der ablaufenden Zauberuhr.
Im Sekretär findet er das alte Kassenbuch, in dem der Vater seine schlichte Buchführung notiert hat, dreht es, schlägt es von hinten auf und beginnt auf der letzten Seite die Bilanz der angehaltenen Zeit. Er wird sich achtundzwanzig Mal schlafen legen, vielleicht ein oder zwei Mal weniger, weil die Uhr schon vor dem 9. April ein Stück gelaufen war, vielleicht ein wenig häufiger, weil sich seine innere Uhr gewiß nicht an einen exakten Rhythmus von vierundzwanzig Stunden halten wird. Es ist nunmehr mit ihm wie bei einem Experiment in einem abgeschotteten Bunker, mit dem man zu ergründen sucht, ob und wie die Biokurve unabhängig vom Tageslicht funktioniert. Nur fehlt jetzt das Referenz-System: die wirkliche Zeit. Er schreibt: 1. Nacht in Pogum gut geschlafen.
Zunächst wird er nach Merreth suchen. Sie wollte sich noch ein wenig auf dem Dorffest umsehen, dann nach Critzum fahren. Und an dem Abend, den es vorläufig nicht geben wird, wollte sie an der Bude einräumen helfen und anschließend mit ihm feiern. Das wird so nicht geschehen. Vermutlich sitzt sie in Critzum bei ihren Eltern und hat ihnen gerade gestanden, daß sie guter Hoffnung ist. Kann das überhaupt sein? Wird sie es bleiben, da
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