Die Uhr der Skythen (German Edition)
Menschen in der Nähe, aber keinen einzigen Zeugen. Niemand wird etwas gesehen haben. Ein älterer Mann verliert ein wenig die Balance und gerät unter einen Bus. Nichts als eine alltägliche Geschichte. Er kehrt zu dem Kind zurück, will ihm den Tennisball in die Hand geben, da fällt ihm etwas Besseres ein. Er öffnet den Ranzen, schaut auf einem der Schulhefte nach dem Namen des Jungen und versteckt den Ball da drinnen.
Es geht aber auch umgekehrt. Wenn er beobachtet, wie der Radfahrer von sich aus ins Schwanken gerät und unter den Bus zu geraten droht, kann er die Zeit anhalten, den Mann in aller Ruhe retten, indem er nur eine geringfügige Korrektur vornimmt, und es wird nichts geschehen, niemand wird es bemerken. Er schaut sich um. Vielleicht ist er im Arbeitsbereich der Schutzengel gelandet, im Reich des Schicksals. Vielleicht sind andere in anderen Zeitfenstern unterwegs und rücken die Geschicke der Menschen ein wenig zurecht. Nur rückgängig machen kann er nichts, nicht das kleinste Ereignis. Die Flocke, die auf die Erde gefallen ist, wird nicht mehr in der Luft schweben. Auf der Verkehrsinsel schiebt er ein wenig Schnee zusammen und formt einen kleinen Schneeball. Den wirft er ein Stück hoch und beobachtet, wie er durch den fallend erstarrten Schnee seine Bahn zieht, zurückfällt und auf der Straße zerplatzt.
Das gibt keinen Sinn, denkt Fokko. Der eine Schnee klebt in der Luft, der andere zischt durch ihn hindurch. Alles ist eingefroren, nichts bewegt sich mehr, aber was ich anfasse, verhält sich normal. Er nimmt die offene Uhr, trägt sie an der Bushaltestelle vorbei und bis auf die Hasebrücke, wo er sie auf die Brüstung legt. Dann sucht er sich einen Stein, hält ihn über den Fluß und läßt ihn los. Er fällt wie jeder Stein in jedes Wasser, nur daß es beim Aufprall kein Geräusch gibt und es den Anschein hat, es geschähe langsamer als sonst, irgendwie zäher.
Fokko sucht einen anderen Stein. Er schließt die Uhr, läßt den Stein fallen und öffnet die Uhr sofort wieder. Nun schwebt der Stein ein Stück über dem Fluß und wird in tausend Jahren nicht ins Wasser fallen, wenn der Meister der Zeit es nicht will. Er könnte aber die Böschung hinabklettern, den Stein aus der Luft pflücken und ihn in den Fluß fallen lassen.
Der Junge auf der Verkehrsinsel hat den Kopf gedreht. Der Bus ist vermutlich ein Stück weitergefahren, der Mann auf dem Rad ist von hier aus nicht zu sehen. Wie fühlt sich das für die anderen an? Spüren sie überhaupt nichts? Geht das Leben nahtlos weiter, auch wenn für ihn ein ganzes Jahr vergangen ist? Aber wie soll es auch vergehen, es geschieht ja nichts. Und wie geht es ihnen damit, wenn sie davon wissen, wenn er es ihnen erklärt, oder gar beweist?
»Das Ding macht mich verrückt«, sagt er, schließt die Uhr und verstaut sie in der Tasche. Der Junge geht gebückt auf der Verkehrsinsel hin und her und sucht augenscheinlich nach seinem Ball. Der Bus ist schon halb um die Kurve zum Hasetorwall, der Radfahrer folgt in einem schönen Bogen. Die Fußgängerampel springt auf grün, der Schnee fällt barmherzig der Erde entgegen, und alle Welt ist unterwegs, als wäre nichts gewesen.
»Ich fahre nach Hause«, spricht Fokko.
Es wird nicht viel Zeit vergangen sein, seit es zehn Uhr gewesen ist, Eva wird gewiß noch tief und fest schlafen, aber er vermißt ihre Wärme, sein Zimmer und die Musik. Er hat ja einen Schlüssel, er muss sie nicht wecken, kann sich sozusagen still bereithalten für den Moment des Frühstücks und der Versöhnung. Wenn sie erwacht, und Kaffee, Honig und Toast ihr nicht begreiflich machen, daß sie das rettende Ufer des neuen Jahres erreicht hat, wenn sie ihr Gift noch immer nicht verspritzt hat und nicht verstanden, wie lächerlich ihre Anwürfe sind, dann bleibt ihm immer noch der Zauber seiner neuen Uhr, jederzeit kann er ihre Angriffslust tiefgefrieren, ihr den spöttischen Blick in Bernstein konservieren und in aller Ruhe seine Sachen packen und sich davonmachen, jederzeit.
Der Junge kommt des Weges, hat seine fröhliche Miene ein wenig verloren.
»Guten Morgen, Oskar«, spricht Fokko ihn an.
Er macht nur große Augen.
»Ich weiß, was du vermißt.«
»Was…?«
»Es ist dein Tennisball, du hast ihn verloren und trägst ihn dennoch bei dir.«
»Wie bitte?«
»Schau in deinem Ranzen nach!«
Langsam hebt Oskar den Blick. Es ist nicht klar, ob ihm die Sache unheimlich ist, oder ob er glaubt, am Neujahrsmorgen auf der Hasebrücke
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