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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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Bahn eben verlassen hat. Von der Straße sind Autos zu hören, irgendwo bellt ein Hund. Die Krähe sitzt nicht mehr auf dem Signal, und die Bahnsteigsuhr läuft, als wäre nichts geschehen. Es ist vier Minuten nach zehn.
    Alles geschieht in der Zeit. Wenn sie innehält, und es keiner bemerkt, hält sie nicht inne. Man wundert sich vielleicht, wenn plötzlich Spuren im Schnee erscheinen, wenn man statt einer Bierdose eine Zigarette in Händen hält, aber wie sollen die Menschen auch glauben können, daß das erste und eisernste Gesetz ihrer Erfahrung plötzlich aufzuheben wäre.
    Ihm ist kalt. Er geht. Als er über die große Kreuzung vor dem Bahnhof will, springt die Ampel auf rot. Er könnte warten, aber er kann es lassen, zieht die Uhr aus der Tasche, öffnet sie, und der gesamte Verkehr ist eingefroren, die Welt nichts weiter als ein Foto, durch das er, Fokko van Steen, hindurchspazieren kann, als wäre es ein Bühnenbild. Er läßt sich Zeit.
    Sieht ihn der Busfahrer vor seiner Windschutzscheibe auftauchen? Wenn er die Uhr jetzt schließt, fährt ihn der Bus mausetot. Wie ist das mit der Gravitation? Entweder wirkt sie nicht mehr oder vielleicht doppelt und dreifach, denn wie sonst kann der Radfahrer die Balance halten? Wenn Fokko ihm jetzt den Lenker um drei Zentimeter verdreht, wird er, wenn die Zeit zurück ist, fürchterlich auf die Nase fliegen.
    Auf der Verkehrsinsel in der Mitte der Straße steht ein Junge mit einem Schulranzen auf dem Rücken. Er mag sieben oder acht Jahre alt sein, etwa wie das Mädchen vom Bahnhof, trägt eine Pudelmütze und einen knallbunten Schal, und mittendrin leuchtet ein fröhliches Gesicht und ein putzmunterer Blick, der darauf wartet, daß die Ampel auf grün springt. In der Hand hält er einen Tennisball. Fokko nimmt ihn, wirft ihn hoch, fängt ihn auf und  läßt ihn mehrmals aufspringen. Alles scheint normal.
    Aber vielleicht ist es seine eigene magische Aura, die immer nur dort, wo er sich befindet oder etwas berührt, das starre Abbild der eingefrorenen Wirklichkeit auftaut. Nur so weit sein Arm reicht, wirkt die Schwerkraft, nur so weit sein Blick trägt, existiert überhaupt so etwas wie eine Welt. Es ist, wie die kleinen Kinder es glauben: wenn er die Augen schließt oder sich wegdreht, ist alles fort, nichts mehr da, und mit jedem Blick erschafft er seinen Kosmos neu. Dann müßte der Radfahrer, wenn er ihm zu nahe kommt, umfallen. Und der Tennisball, wenn er ihn wirft, würde nach ein paar Metern alle Energie verlieren.
    Er legt die Uhr geöffnet auf die Motorhaube eines Autos, nimmt einen gehörigen Anlauf, wirft den Ball mit aller Kraft Richtung Altstadt und wundert sich. Er hat erwartet, daß der Tennisball über seinem Kopf in der Luft steckenbleibt, als hätte er ihn in einen fetten Brei geworfen, oder daß er wenigstens von einer vielfachen Schwerkraft an die Welt genagelt worden wäre wie eine Stecknadel an einen Riesenmagneten, aber der Ball fliegt in einem wunderschönen Bogen über die stillgestandene Welt hinweg, springt völlig geräuschlos auf das Dach eines Taxis, von dort in ein Wartehäuschen an der Bushaltestelle, wo er drei oder vier Mal nach einem Ausweg aus dem gläsernen Käfig sucht, ehe er entmutigt auf den Bürgersteig rollt, es eben noch über die Kante schafft, ein kleines Stück weit durch die Gosse kullert, um auf einem Gullydeckel zur Ruhe zu kommen.
    Es gibt keine Aura. Er schaut dem Jungen in seine freundlichen Augen.
    »Siehst du mich? Wirst du dich an mich erinnern?«
    Da ist kein Licht, nicht die geringste Bewegung, seine Seele schläft, aber Fokko kann ihm ohne weiteres den Kopf um ein paar Grad drehen, daß sich sein Blick demnächst im Efeu der Pernickelmühle verliert, während sein Verstand nach der grünen Ampel fragt.
    »Du willst deinen Ball wiederhaben, nicht wahr?«
    Er holt den Ball und nähert sich auf dem Rückweg dem Radfahrer. Der sitzt einigermaßen lotrecht auf seinem Vehikel, ein älterer Mann mit einer Pudelmütze und einer Hornbrille, hinter der sein Blick zur linken Seite geht, wo er wohl gerade den Bus spürt, der ihn im nächsten Moment überholen wird. Wenn er nun den Lenker tatsächlich um ein Geringes zur linken Seite verdrehen würde, käme der Mann in einem eleganten Bogen in die Bahn des Busses und würde unweigerlich überfahren werden. Er selbst, Fokko, könnte aber am anderen Ende der Stadt sein, ehe er die Uhr wieder schließt.
    Der perfekte Mord. Er schaut sich um. Es gibt bestimmt ein paar Dutzend

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