Die Uhr der Skythen (German Edition)
einem Wahnsinnigen begegnet zu sein. Jedenfalls nimmt er den Schulranzen vom Rücken, schaut nach und findet den Tennisball, den er wie ein rohes Ei zwischen seinen Füßen in den Schnee setzt.
»Warum bist du um diese Zeit mit deinem Ranzen unterwegs?« fragt Fokko.
»Wieso nicht? Es ist schon nach zehn Uhr.«
»Aber es sind Ferien.«
Oskar sagt kein Wort, hantiert und hampelt nur mit seiner Kapuze herum, als er versucht, den Ranzen wieder aufzusetzen, Fokko will ihm helfen, aber der Junge macht zwei Schritte zurück und wehrt ihn mit einem ängstlichen Blick ab. In diesem Moment öffnet Fokko die Uhr in der Manteltasche, nimmt sie hervor und legt sie wieder auf die Brüstung.
Was wird aus der Furcht des Jungen? Fokko beugt sich zu ihm hinab und schaut ihm tief in die Augen. Da steht kein sonderliches Gefühl geschrieben, am ehesten ein Ausdruck von Hilflosigkeit, wie ihn jede Wachsfigur besitzt. Wenn aber ein Stein, überlegt Fokko, den alten Gesetzen gehorchen muß, sobald ich ihn in die Hand nehme, so könnte ein Mensch, den ich berühre, erwachen und mit mir in dieses seltsame Zwischenreich treten. Es ist einen Versuch wert.
Er nimmt dem Jungen die Pudelmütze und setzt sie sich selbst auf. Dann legt er feierlich die Hand auf seinen Kopf. Nichts geschieht. Er streichelt ihm die Wange, berührt ihn an den Händen, gibt ihm zum Schluß einen Kuß auf die Stirn, aber es ist unmöglich, ihn aus der Erstarrung zu lösen. Vielleicht muß man ihn an die Hand nehmen, bevor man die Uhr öffnet.
Auf jeden Fall könnte er ihn auf die Brüstung der Brücke stellen, auf die äußerste Kante, und wenn der Junge erwacht, wirft ihn der Schreck in den Fluß. Müde schaut Fokko sich um. Wie schnell er sich daran gewöhnt hat, in einer Fotografie zu existieren. Er besitzt wohl noch nicht annähernd eine Vorstellung davon, welch eine enorme Macht in seiner neuen Fähigkeit schlummert, aber er ahnt, wie fürchterlich die Einsamkeit im Reich des Schicksals ist.
Der Tennisball liegt noch da. Er könnte ihn abermals in den Ranzen stecken, könnte ihn in den Fluß werfen oder sonstwohin, aber was hilft es, einem Schuljungen imponieren zu wollen. Er zupft ihm die Kapuze zurecht, tritt an die Brüstung zurück und schließt die Uhr, indem er sie in die Tasche versenkt.
Der ängstliche Blick ist sofort wieder da. Er ruckt und zerrt an Ranzen und Jacke herum, aber es ist alles glatt. Dann macht er große Augen und geht noch einen Schritt zurück.
»Meine Mütze…!?«
»Ach ja«, sagt Fokko, zieht die Pudelmütze vom Kopf und hält sie ihm hin.
»Wie machst du das?« fragt Oskar, setzt die Mütze auf und nimmt sich den Tennisball.
»Ich bin ein Zauberer. Soll ich dir noch mehr vormachen?«
»Nee, sind ja alles nur Tricks«, sagt der Junge und geht.
»Na klar…«, sagt er leise.
Fokko schleicht die Treppe hinauf und horcht ins Haus. Es ist still. Sorgsam steckt er den Schlüssel ins Schloß, hebt die Etagentür ein wenig an, öffnet sie einen Spalt, schlüpft in die Wohnung, schließt die Tür geräuschlos hinter sich und bleibt mit angehaltenem Atem im Flur stehen. Nichts ist zu hören.
Bedächtig nimmt er den Rucksack ab, hängt den Parka an die Garderobe und geht in die Küche. Dort legt er die Tüte mit Brötchen auf den Tisch, tritt an das Fenster und schaut hinaus in den Schnee. Die Gärten sind verschneit, die Schuppen und die Sandkästen sind überzuckert, die Dächer in den Schattenecken, wo der nervöse Wind nicht hinkommt, der riesige Wolken aus den Baumkronen fegt. Dieses Wetter scheint auch die Zeit anzuhalten.
Ausrechenbar, hat sie gesagt, du bist sowas von ausrechenbar.
Er setzt die Kaffeemaschine in Gang, stellt das Tablett auf den Tisch und holt Butter und Käse, Wurst und Eier aus dem Kühlschrank. So ein schönes Frühstück, denkt er, ist auch ausrechenbar, stellt eine Pfanne auf den Herd und gibt ein Stück Butter hinein. Er schaut auf die Küchenuhr. Viertel vor elf. Das ist eine Zeit, die muß erlaubt sein.
Als er das Frühstück mit Rührei, einer Scheibe Salami in Herzform und Orangensaft auf dem Tablett arrangiert hat, trägt er es aus der Küche, und eben, als er bemerkt, daß die Tür zu ihrem Zimmer nur angelehnt ist, hört er von dort ein Schnaufen und ein Japsen, dazwischen ein Gnickern und Flüstern, und wie ihm die Geräusche gleichermaßen fremd und vertraut vorkommen, weiß er sich nicht zu entscheiden, ob er sich stiekum aus der Wohnung schleichen oder mit einem fröhlichen Lied
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