Die Uhr der Skythen (German Edition)
sondern auch in dem quasi reflektorischen Sinne, ich weiß, wo immer ich auch bin, wohin ich gehöre.
»Bei uns war das das Leuchtfeuer«, sagt Fokko. »Es ist zu Lande eine ebenso gute Hilfe wie zu Wasser.«
»Ja«, sagt er und schließt sein Haus auf, »aber es ist mehr als ein Seezeichen. Es ist ein Stück von mir, das hierbleibt, wenn ich gehe. Es vertreibt die bösen Geister, verankert meine Seele.«
»Wenn die Fischer früher aufs Meer rausfuhren, haben ihre Frauen Kerzen in die Fenster gestellt.«
»So, genau so.« Er lacht, hängt seinen Mantel an die Garderobe und öffnet die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Es ist ein Raum, der die komplette Tiefe des Hauses durchmißt. In einem Erker zum Garten steht der Schreibtisch, an den Wänden Bücherregale, Fotos und ein paar alte Landschaftsgemälde. In der Mitte residiert ein schwerer Tisch, darauf ein Stapel Zeitungen, eine Teekanne, ein Aschenbecher. Es ist wie eine Dependance zum Crocodile , Zigarrenrauch klebt in allen Ecken, Schwammheimer öffnet eine Terrassentür und fragt nach Getränken.
»Wasser.«
»Wasser ist gut.«
Schwammheimer verschwindet. Fokko nimmt den Rucksack ab, zieht den Parka aus, legt ihn über einen der dicken Ledersessel, die um den Tisch herum stehen und tritt in die Tür zum Garten, in den das Licht aus dem Haus nur schwach und ein paar Schritte weit fällt, wie auf einer miserabel belichteten Fotografie. Es kommt ihm vor, als erinnerte er das Haus von innen noch intensiver. Hier ist er in seinen Träumen gewesen, in uralten Fotoalben, in verstaubten Romanen und längst verwehten Erzählungen. Es ist vergeblich, aber er sucht seit langem nach nichts anderem als nach seiner Kindheit.
Schwammheimer kommt mit Wasser und Genever, räumt auf dem Tisch herum und macht einen einladenden Hinweis auf einen der Sessel. Sie sitzen wie zwei Kandidaten für einen Literaturpreis über Eck beieinander und starren schweigend auf die Terrassentür, als wäre die Kälte, die von dort heranströmt, die symbolische, die sie auf der Bühne erwarten und in eine bodenlose Verlegenheit stürzen wird. Schließlich steht Schwammheimer auf, schließt die Tür und läßt rundum hölzerne Rolläden herunterpoltern, als wäre es damit besiegelt, daß sie gemeinsam und unwiderruflich die unbilligen Ansprüche der Welt weggesperrt hätten. Dann, wie um diesen Entschluß zu bekräftigen, gießt er ihnen Wasser und Schnaps in die Gläser, setzt sich zurück, und hält das kleine Glas so vor sein Auge, als prüfe er den Alkohol auf seinen Wahrheitsgehalt.
»Zunächst ist er gut, sich zu erinnern, später dann, um zu vergessen.«
Sagt es und kippt den Genever weg. Fokko nimmt einen Schluck Wasser.
»Was ist der Unterschied?« fragt Schwammheimer.
»Welcher?«
»Der zwischen dem schwebenden und dem fliegenden Ball.«
»Ich habe mit einem Stein experimentiert. Wenn ich ihn unter normalen Umständen von einer Brücke in einen Fluß fallen lasse und die Zauberuhr öffne, bevor er auf das Wasser auftrifft, verharrt er gegen alle Gesetze der Schwerkraft in der Schwebe, und so ich will, pflücke ich ihn aus der Luft wie einen Apfel vom Baum. Nehme ich dann einen zweiten und lasse ihn ebenfalls fallen, wird er an dem ersten vorbeifallen und im Fluß versinken wie jeder vernünftige Stein.«
»So geht das?«
»So geht das.«
Versonnen dreht Schwammheimer das Schnapsglas in seinen Fingern.
»Wenn ich also einen Aquavit fallen lasse, und du öffnest beizeiten die Uhr, so schwebt das Glas im Raum. Du kannst es nehmen und austrinken, aber du kannst es nicht einfach dorthin zurücksetzen, von wo du es gegriffen hast.«
»Vermute ich, ja.«
»Wenn ich das Glas auf die Küchentür werfe, kannst du es aufhalten, und wenn du die Uhr wieder schließt, fliegt es durch die Scheibe. Wenn du es aber unter dem Einfluss des Stillstandes wirfst, hältst du es nicht mehr auf, auch nicht, wenn du die Uhr rechtzeitig wieder schließen würdest.«
»So ist das wohl.«
»Es ist also eine Frage der Aura und eine Frage des Zeitpunktes.«
»Ja, sofern man unter einem Stillstand der Zeit von einem Zeitpunkt reden kann.«
»Richtig«, sagt Schwammheimer und füllt bedächtig sein Glas nach. »Hört sich an wie ein Widerspruch, scheint mir aber wie jedes gute Paradoxon auf eine versteckte Weisheit zu deuten.«
»Und zwar?«
»Wenn das alles so ist, wie du es schilderst, dann kommt das, was wir als Zeit begreifen, völlig aus dem Tritt. Du versetzt die Welt in einen Dornröschenschlaf,
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