Die Uhr der Skythen (German Edition)
mit dem Bischof Schritt zu halten. »Dieser Mensch hat ein erfolgreiches Leben geführt, aber es war wohl vor allem getragen von der melancholischen Spiritualität, die man bis heute hört. Wie gern würde ich ihm mal begegnen!«
»Wem?«
»Vivaldi.«
Schwammheimer lacht.
»Dafür bräuchtest du eine Uhr, mit der man sich rückwärts bewegen kann.«
»Das wäre die Zeitmaschine.«
»Allerdings.«
»Was meinst du mit Charakter?« fragt Fokko und bleibt am Pappelsee stehen. Das Licht der Straßenlaternen vom gegenüberliegenden Ufer liegt verblichen auf dem Wasser. Es regt sich nichts, und für diesen Augenblick, da der Lauf der Welt aus sich selbst anhält, überlegt Fokko, wie es wäre, die Zauberuhr auf den See hinauszuwerfen, wo sie mit einem scheuen Glucksen verschwinden und für den Rest der Zeit im Schlamm versinken würde. Aber Freund Schwammheimer hat offensichtlich andere Ideen, packt ihn wieder am Arm und zieht ihn weiter.
»Es ginge auch anders. Du könntest die Zeit anhalten, in eine Bank spazieren, die Kasse ausräumen und längst sonstwo sein, ehe der Kassierer überhaupt bemerkt, daß ihm Geld fehlt. Könntest dir jede Unterschrift ergaunern, indem du Papiere vertauschst, könntest dem Geschäftsmann in die Bilanzen schielen, dem Ehrenmann ins Privatleben, jeder Frau unter ihren Rock.«
Da hat er wohl Recht. Es gibt ein schönes Panoptikum von Möglichkeiten.
»Du wirst dich vor Anträgen nicht retten können. Man wird begehrlich um deine Dienste buhlen, dir die halbe Welt versprechen oder dich unter Druck setzen…«
»Was für Dienste denn?«
»Naja, so etwas wie gehobene Liebesdienste. Geheimdienste zum Beispiel. Du spazierst in eine Waffenfabrik, packst die Unterlagen in deine Aktentasche und spazierst wieder raus. Die Militärs werden dich verführen, um dich mit ihrem Frühwarnsystem zu verheiraten. Es kommt eine Rakete geflogen, General Fokko fixiert sie über dem Atlantik und ergreift in aller Ruhe Gegenmaßnahmen. Du wärest quasi ihre Erstschlaggarantie. Oder ganz schlicht als Privatdetektiv. Flanierst ins Schlafzimmer der Treulosen, schießt ein Foto in flagranti crimine und verabschiedest dich ohne Eile aus dem Liebesnest.«
»Du machst mir Angst, Schwamm!«
»Nur, sofern jemand was davon erfährt«, sagt Schwammheimer und legt wieder seinen Arm um Fokkos Schulter. »Ich schweige, und du solltest das auch.«
Sie kommen an das Ende des Pappelsees. Schwammheimer wirft einen Blick zurück, als sei es auf seine herrschaftliche Latifundie, der Hauch der Jahrhunderte scheint ihn anzuwehen wie ein dynastischer Wind, und nicht ohne warme Wehmut beginnt er von alten Zeiten zu erzählen, von seiner vorzeitlichen Kindheit, in der er Kaulquappen aus dem Pappelgraben gefischt hat, Pielepokken, denen ein nicht eben artgerechtes Ende bevorstand, weil er sie in den Einmachgläsern hinter dem Haus in der Sonne vergaß, derweil er Pfennigstücke auf die blankpolierten Schienen legte, die von Münster kamen oder Bremen, suchte, nachdem die Dampfloks vorbeigestampft waren, zuweilen eine Ewigkeit nach den dünnen, ellipsoid ausgewalzten Kupferscheiben, auf denen die Gravur verwischt war wie das Bildnis eines römischen Kaisers, der durch allzu viele Hände gegangen ist. Mit einem Spiegel, den er im Schuhgeschäft zubekommen hatte, fing er die Sonnenstrahlen ein, lenkte sie über die Hauswände, durch die grünäugige Welt seiner Katze, ließ sie über die vorbeiratternden Flächen der Güterwaggons springen und mit gutem Glück in das Auge des Lokführers, der sogar einmal mit empört aufheulender Dampfpfeife reagierte, als wäre die Lokomotive selbst von dem tödlichen Strahl getroffen. Mit dem Brennglas verkürzte er die unendliche Strecke, die das Licht von der Sonne bis hinter das schlichte Haus der Schwammheimers zurücklegte, schmolz Löcher in die Nachrichten des Vortages, durchbohrte einmal gar ein Telefonbuch und setzte eines Sommertages den Bahndamm bis hinauf zur weggebombten Brücke in Brand, verbrachte den Rest des Tages und die darauffolgende Nacht mit einem nachglühenden Gewissen, ehe am nächsten Morgen in der Zeitung zu lesen stand, es sei wahrscheinlich der Funkenflug schuld einer Lokomotive und die anhaltende Dürre.
Ein Stadtbus schleicht um die Ecke Limberger Straße. Nun, erinnert sich Fokko, ist es nur noch das Stück an den Kleingärten entlang bis zu dem verwunschenen Haufen Häuser an der Bahn. Schwammheimer hat offenbar den Ort seiner Kindheit niemals verlassen, und
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