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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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der vielleicht länger als hundert Jahre dauern kann. Die Zeit fließt nicht mehr. Aber es gibt dennoch eine Art Binnenzeit, in der du dich ungeniert bewegen kannst – wenn auch ein wenig einsam.«
    »Das kam mir auch in den Sinn. Mit Hilfe der Uhr betrete ich ein anderes Zeitsystem. Ich kann in das, was wir als alleingültige Realität verstehen, ohne weiteres eingreifen, ich kann zaubern, und doch hat der Junge, dem ich den Tennisball versteckt habe, recht gehabt. Es ist nur ein Trick.«
    »Genau, Fokko! Haargenau!« Er hebt das Glas und sucht in der goldgelben Flüssigkeit wieder nach kategorischen Erkenntnissen. »Warum überhaupt sollte die Zeit einzigartig sein?«
    Er stellt den Schnaps zurück.
    »Du betrittst eine Parallelwelt und nimmst von dort aus Einfluß. Es ist wie der Übertritt in eine andere Dimension, zwar unserer Wahrnehmung entzogen, aber nicht unbedingt unserer Vorstellungskraft.«
    »Ich habe schon gedacht, Schwamm, daß ich im Reich der Schutzengel gelandet bin, in der Werkstatt des Schicksals. Und andere bewegen sich vielleicht in anderen Zeitebenen und betrachten den Lauf der Dinge aus einer höheren Perspektive.«
    »Das kann es geben, Fokko. Wenn eine Wespe immer wieder gegen eine Fensterscheibe fliegt, ohne zu begreifen, was sie da auf dem Weg zum Licht aufhält wie das Energieschild eines Raumschiffes, wenn ich einer Ameise immer wieder den selben Stein in den Weg lege, und sie verliert sich in einer Reiz-Reaktions-Schleife, wenn ich einem Tiefseefisch mit einer Taschenlampe in die Millionen Facetten seiner Tentakelaugen leuchte, dann ist das stets dasselbe: ich wirke aus einer unvorstellbaren, höheren Dimension in die Realität ein, die scheinbar sicher definiert ist und letztgültig.«
    »Wir sind Sklaven unserer Wahrnehmung.«
    »So ist es.«
    Es ist, als hätten sie eben eine epochale Idee besiegelt: einen raffiniertesten Banküberfall, die Erfindung eines revolutionären Küchengerätes oder die unwiderrufliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Schwammheimer hebt den Genever. Fokko schaut auf das Glas, das vor ihm steht, prostet dem Freund zu und stürzt den Schnaps hinunter. Eine glühende Spur fällt in seinen Körper, ein dumpfes Empfinden steigt in seinen Kopf und erinnert ihn an die Bewußtlosigkeit der vergangenen Nacht. Er schüttelt sich.
    »Wie war das«, fragt Schwammheimer, erhebt sich nebenher, schreitet in aller Ruhe zu seinem Schreibtisch, kommt mit ein paar Notizzetteln und einem Stift zurück, legt eine englische Gartenzeitschrift als Unterlage zurecht und setzt sich wieder an seinen Platz wie ein gutmütiger Kriminalkommissar, der jetzt gegen seinen natürlichen Willen das Verhör eröffnen wird. »Wie war das, als du die Uhr zum ersten Mal geöffnet hast?«
    »Das war bei Dick.«
    »Bei Dick? Wann?«
    »Heute morgen, denke ich…«
    Die wenigen Arabesken, die er mit Hilfe der magischen Uhr in die Zeit geschnitzt hat, die sind es nicht, die erzeugen ihm nicht das Gefühl, daß der Lauf der Dinge eine veränderte Richtung genommen hat, daß die Ordnung seines Lebens sich plötzlich auflöst, als wäre sie nur ein Stadium der Verpuppung gewesen, und daß der Verlust der Liebe einhergeht mit einer so rätselhaften wie abenteuerlichen Entdeckung, das ist möglicherweise mehr als ein gewöhnlicher Zufall.
    »Und?« Schwammheimer tippt mit dem Stift auf den kleinen Stapel Notizzettel.
    »Beim ersten Mal hättest du sie auch öffnen können«, sagt Fokko.
    »Dann wäre ich auf sie geprägt gewesen. Oder sie auf mich.«
    Schwammheimer erzeugt so etwas wie ein generöses Lachen, die Brille sitzt ihm schräg auf dem Kopf, hinter dem linken Ohr steht ein graues Haarbüschel spitz weggeknickt vom Schädel, und in dem trüben, zigarrenfarbenen Licht scheint die Haut seiner Wangen von einem rotbraunen Ausschlag befallen.
    »Nein«, sagt Fokko. »Jeder hätte sie öffnen können.«
    »Natürlich.«
    »Immer wieder. Und es wäre nichts geschehen.«
    Schwammheimers Hand legt den Stift beiseite und tastet nach dem Geneverglas.
    »Wieso?«
    Für einen Moment hält Fokko inne. Eigentlich, überlegt er, ist die ganze Sache gut für ein Geheimnis. Die Macht, die den Möglichkeiten der Uhr innewohnt, ist intensiver, solange sie diskret wirkt, und je mehr Menschen davon erfahren, desto zerbrechlicher.
    »Das behältst du alles für dich, Schwamm?«
    Der Kopf des Dichters nickt, seine Hand hält das Glas mit kreiselnder Bewegung, als wäre es Cognac. Er hat offenbar

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