Die Uhr der Skythen (German Edition)
sich im Arbeitszimmer um, ohne was von den Büchern in den Regalen, den Zeitschriften auf dem Tisch oder den wirren Papierstapeln auf dem Schreibtisch wirklich wahrzunehmen.
Unversehens ist der Freund wieder an seiner Seite, erklärt die Arbeit des Schriftstellers, eine äußerst empfindliche Pflanze, die ständig von den frostkalten Nächten des Zweifels bedroht sei, von den unwirtlichen Winden des Banalen und von namenlosen Perioden der Dürre, vornehmlich des Nachts, wenn die Gedanken glaubten, sie könnten davonfliegen, wohin sie wollten.
»Eigentlich«, sagt er, »ist es eine Arbeit, die ich hasse. Die mich fesselt, die mich quält, die mich vergiftet.«
Er wühlt in den Papieren, als wären es lauter Rechnungen und Mahnbescheide auf die Dienstleistungen, die er in Anspruch genommen hat: die peinigenden Selbstzweifel, die vergeblichen Versuche, den Klauen des Trivialen zu entrinnen.
»Ich werde immer und ewig ihr Sklave sein«, stöhnt er, holt einen verstaubten Ordner hervor, der unter dem Gewicht hunderter handbeschriebener Seiten verzogen ist wie ein schiefhalsiger Verwalter der Vergangenheit, blättert ein wenig in den Millionen Wörtern, die ehedem seinem Herzen abgerungen und der Feder entflossen sind, legt schließlich die Hand auf eine Seite wie einen Flusskiesel, der diesen Moment für alle Zeiten versiegelt.
»Früher habe ich alles mit der Hand geschrieben. Heute nutze ich die fraglosen Vorteile des Rechners. Es gibt nichts besseres, und doch glaube ich Tag um Tag fester daran, daß es ein Fehler war, die alte Handschrift zugunsten einer jungen Geliebten aufzugeben. Es kann mir niemand weismachen, daß es ein und dasselbe wäre, einen Roman mit einem Computer zu schreiben, oder mit der Hand. Die Art und Weise des Schreibens bestimmt das Denken, auf jeden Fall das Ergebnis.«
Er schließt den Ordner und räumt ihn beiseite.
»Die Handschrift macht für sich alleine Sinn. Es ist eine organische Bewegung, die einen jahrtausendalten Zweck erfüllt. Es ist etwas vollkommen anderes als das Vogelpicken auf dem Keyboard.«
Schwammheimer setzt sich auf den Stuhl, zieht die Lade unter der Arbeitsplatte auf und holt ein schweres, handgebundenes Manual hervor mit regenbogenfarbigen Schnittseiten und einem marmorierten Deckel, in dessen oberer Mitte ein verblichenes Etikett klebt, auf dem in schönster Schrift geschrieben steht: Jakob Schwammheimers Zahlenbuch .
»Was ist das?«
»Mein Zahlenbuch.«
»Wie bitte?«
In einer Gebärde, die möglicherweise seine Privatsphäre schützen soll oder einen Einfluß nehmen auf den Inhalt des magischen Folianten, legt Schwammheimer die ausgestreckte Hand auf das Buch.
»Beim Schreiben, Fokko, ergeben sich häufig lange Zeiten vermeintlicher Untätigkeit. Wie ein Geisteskranker starre ich auf das leere Blatt, als wäre ich Opfer deiner Zeitstillstände, lese das jüngst Geschriebene dutzendfach, schaue aus dem Fenster in den Garten und das Land, und die Jahreszeiten rauschen vorüber. Einem Unbefangenen mag es wie eine Tortur vorkommen, wie eine geistige Sackgasse, aus der mich nichts mehr rettet, aber das Denken entsteht im Loslassen, in der Regel verlasse ich dann das Haus, gehe am Stellwerk vorbei, an den Gleisen lang bis zur Autobahn und im Bogen zurück, und wenn mich die Natur ablenkt, die Geräusche, die seltenen Begegnungen, dann tritt eigentlich immer die richtige Idee an mich heran. Wie ein zuverlässiger Gefährte, der sich mir ohne ein Wort zugesellt.«
»Und das Zahlenbuch?«
»Ist wie ein Spaziergang. Die Kunst ist also, zunächst an überhaupt nichts zu denken, um die richtigen Gedanken zuzulassen, ihnen Raum zu geben…«
»Wie in der Zen-Meditation…«
»In etwa. Vor einigen Jahren habe ich begonnen, Zahlen zu schreiben. Immer wenn mich die Fruchtlosigkeit zu übermannen droht, wenn ich Sorge habe, in irgendeine der tausend Banalitäten abzudriften, die mich stetig umschwirren wie eine Legion Stechmücken, greife ich zu diesem Buch.«
»Zahlen schreiben.«
»Ja«, sagt Schwammheimer und schlägt das Manual auf. »Die natürlichen Zahlen in ihrer regelgerechten Reihenfolge.«
Fokko schaut ihm über die Schulter. Die Lineatur der Seiten ist in maßgerechte Spalten unterteilt, in die in akkuratester Schrift Zahlen in aufsteigender Reihenfolge eingetragen sind. Schwammheimer blättert einige Seiten voraus, die Kolonnen werden breiter, jede Ziffer für sich mag ein individuelles Zeichen sein, sie stammen aber eindeutig von einer singulären
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