Die Uhr der Skythen (German Edition)
tatsächlich Parkinson.
»Ich kann dir das Innere der Uhr nicht mehr zeigen. Hätten wir sie gemeinsam gefunden, wäre es kein Problem gewesen, denn sie befand sich zunächst in einem Ruhezustand. Ich habe sie aktiviert und damit auf mich geprägt.«
»Wie das?«
»Zufällig. Das Innere ist wie eine astronomische Uhr, besteht aus einem Rand und einer beweglichen Scheibe, alles mit alten Symbolen bezeichnet, und im Zentrum ist ein kleiner Kreis, ein Knopf mit einem Symbol für die Nacht. Den habe ich gedrückt.«
»Was für ein Symbol?«
»Dunkel und Mond.«
»Und?«
»Der Knopf gab nach. Drehte sich irgendwie, etwas pikste in meinen Finger und es war ein anderes Symbol zu sehen.«
»Welches?«
»Eine Sonne. Die ist noch immer da und läßt sich kein Stück eindrücken.«
»Die Uhr läuft.«
»Hab ich auch gedacht.«
Schwammheimer schaut durch ihn hindurch.
»Was hat in deinen Finger gestochen?« fragt er.
»Ich weiß es nicht.«
»Eine Nadel?«
»Kann sein.«
»Hat es geblutet?«
»Ein Tropfen.«
»Das ist unheimlich.« Jakob Schwammheimer stürzt den Genever hinunter, als wäre er die rettende Medizin gegen einen Schlaganfall. »Die Vereinigung mit der magischen Kraft der Uhr ist also sowas wie eine Blutsbrüderschaft. – Seltsam.«
»Ja, aber es versetzt mich in keinen veränderten Zustand.«
»Nein?«
»Ja, schon, aber es fühlt sich nichts anders an als sonst.«
»Hast du Dick davon erzählt?«
»Dick war überhaupt nicht da. Anna war da.«
»Anna. Was hat die gesagt?«
»Nichts. Die hat überhaupt nichts gemerkt.«
Schwammheimer hat sich erhoben, ist abermals an seinen Schreibtisch getreten und sucht zwischen den Papieren, als wäre er der Anwalt, hätte im Moment die letzte Hoffnung für den Klienten fahrenlassen und versuchte in grotesker Geschäftigkeit, die Verkündung des Urteils für einen Atemzug hinauszuschieben.
»Was sich wirklich anders anfühlt«, erklärt Fokko, »ist die überwältigende Stille. Das gibt es sonst wahrscheinlich nur im All. Man spürt aber sofort die kosmische Einsamkeit, die einen umfängt wie der Sarg, in dem man lebendig begraben liegt. Es wäre nett, wenn man jemanden in die Zwischenzeit mitnehmen könnte, einen Freund oder eine Frau…«
»Vielleicht geht es ja.« Schwammheimer kehrt an den Tisch zurück. »Nur wissen wir noch nicht, wie.«
»Ich habe versucht, den Jungen mit dem Tennisball einzubeziehen.«
»Wie?«
»Habe ihm die Wange gestreichelt, ihn an die Hand genommen und ihm einen Kuß auf die Stirn gegeben. Hat alles nichts genutzt.«
»Wahrscheinlich mußt du mir einen Zungenkuss geben.«
»Oder wir müssen zunächst Blutsbrüderschaft schließen.«
»Und es muss geschehen, bevor die Uhr geöffnet wird.«
Sie lachen, müde wie zwei Wissenschaftler, die einen Tag lang Ratten in einem Labyrinth beobachtet haben, ohne am Ende auch nur die geringste Erkenntnis zu besitzen. Fokko dreht sich eine Zigarette, steckt sie hinter das Ohr, öffnet die Terassentür und zieht die Jalousie wieder hoch. Dann tritt er ins Freie, steckt sich die Zigarette an und schaut in die Nacht. Der Mond steht nun höher und beleuchtet das verschneite Land in jener Tönung von gespenstischer Klarheit, die Fokko aus den Bildern des Malers Franz Hecker kennt.
»Was ist, Fokko?«
»Ich bin müde.«
»Dein Bett ist fertig. Ich schau nur eben nach dem rechten.«
Der Mond stand im Zentrum der Uhr. Er stand über dem Haus des Domorganisten und war das erste Licht, das ihn heute früh aus dem Container ins Leben zurückgerufen hat. Vielleicht hat der stille Begleiter des Planeten mehr mit den seltsamen Höllenkünsten zu tun als Fokko van Steen ahnt. Ihm kommt der Nachlaß des Naturwissenschaftlers in den Sinn, die Kiste mit den physikalischen Folianten, den persönlichen Aufzeichnungen und privaten Hinterlassenschaften. Wenn er irgend eine Erklärung für das Phänomen des Zeitstillstandes finden kann, dann wohl nur in dem Pappkarton, den er leichtsinnigerweise dort zurückließ, wo er die ersten Stunden des neuen Jahres verbracht hat.
Die Autobahn ist zu hören wie ein nervöser Fluss. Er könnte ihn gefrieren lassen, aber er wünscht im Grunde, nicht länger die Zeit anhalten zu können, um irgendwelche skurrilen Kunststücke zu vollführen, er will sie nur um zwei Tage zurückdrehen, und alles wäre, wie es immer gewesen ist. Die Müdigkeit greift ihn an wie ein plötzliches Fieber, er wirft den Rest der Zigarette in den Schnee, geht ins Haus zurück und schaut
Weitere Kostenlose Bücher