Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
Vom Netzwerk:
doch kann Fokko sich ihn nicht als Kind vorstellen, er ist bestimmt mit Bart, Brille und all seiner enzyklopädischen Weisheit auf die Welt gekommen, hat nichts anderes tun müssen als großzuwachsen. Und das ging wahrscheinlich von selbst.
    »Wie lange wohnst du hier eigentlich wieder?« fragt er.
    »Wie meinst du das?«
    »Seit wann?«
    Schwammheimer schiebt auf einer Vorgartenmauer Schnee zusammen und knetet ihn zu einem Ball. »Seit immer schon. Seit dem Anfang aller Zeit und bis an mein seliges Ende.«
    Fokko ist stehengeblieben und schaut ihn an.
    »Das ist mein Elternhaus, Fokko!« lacht Schwammheimer und wiegt den Schneeball in der Hand.
    »Und deine Eltern, wo sind die?«
    »Meine Eltern…?«
    »Ja.«
    »Also, du meinst meinen Vater und meine Mutter, nicht wahr?«
    Fokko nickt.
    »Die habe ich hinter den Kartoffeln verbuddelt, im Schatten des Bahndamms.«
    Mit Schwammheimers grellem Lachen trifft ihn der Schneeball, zerstäubt an seiner Stirn in eine Million Kristalle, die sich heiß und kalt auf seinem Gesicht niederlassen, in seinen Kragen rutschen, und für eine Sekunde kommt es Fokko vor, als wäre der Heimatplanet in seinem Kopf explodiert. Er versucht ein Lächeln, schüttelt den Schnee vom Parka und reibt sich die Augen.
    »Mein Vater liegt unter dem Tresor einer Sparkasse in Hamburg.«
    »Wieso das?«
    »Er war Maurer. Ist vom Gerüst in ein Fundament gestürzt. Da drinnen liegt er bis heute, mumifiziert in einem Betonsarkophag, über ihm der Tresor, die Schalterhalle, die Büros und der Himmel über der Freien Hansestadt.«
    »Und deine Mutter?«
    »Hat auf mich aufgepaßt wie auf zwei Augäpfel. Bis sie eines Morgens nicht mehr erwacht ist.«
    »Wie alt warst du da?«
    »Vierundzwanzig.«
    »Geschwister?«
    »Meine Eltern hatten eine gemeinsame Zeit von ziemlich genau sechs Monaten. Sie haben sich verliebt, sind zusammen ins Bett gekrochen, und als ich dabei entstanden war, haben sie sofort vor Schreck und Glück geheiratet, aber der Maurer hat seinen Sohn nicht mehr gesehen, lag schon bald ein halbes Jahr in seinem steinernen Grab, als ich auf diese Welt kam.«
    Hinter einer Kurve bleiben sie stehen. Die Stadt scheint hier zu Ende. Vor ihnen liegen verschneite Felder unter einem sternenklaren Himmel, im Mittelgrund ist ein Bauernhof zu erkennen, dahinter beginnt, so scheint es, Wald.
    »Es wirkt sehr idyllisch«, erklärt Schwammheimer, »aber es ist eine Art Niemandsland. Eine Enklave. Es gibt nur diesen Weg hierher, der ganze Winkel ist begrenzt von Bahn und Highway.«
    Jetzt erst hört Fokko das Rauschen der Autobahn. Es ist, als stürzte jenseits der Bäume ein gigantischer Wasserfall in die Tiefe.
    »Du hast also das halbe Leben mit deiner Mutter verbracht und die andere Hälfte allein?«
    »So quasi. Nur daß die zweite Hälfte stetig weiterwächst und sich damit die erste relativ verkleinert.«
    »Wolltest du niemals irgendwo hin?«
    »Wohin?«
    Fokko schaut sich um. Vor vielen Jahren ist er mal hier gewesen, hatte auf der Rückbank eines schweren Wagens gesessen, irgendein verlorener Sohn war in der Stadt aufgekreuzt, versiegelt in einer Aura aus Bedeutung und Weltläufigkeit, hatte nach dem einzigen Genie gefragt, das dieses trostlose Provinznest jemals hervorgebracht, hatte Schwamm gemeint, und Fokko mußte wie ein Dienstbote im Fond hocken und ihm den Weg hierher weisen. Damals war es Tag und Sommer, das Land blühte, eine Schwadron bunter Schmetterlinge torkelte um einen Hibiskus, Schwammheimer parlierte launig mit dem Angeber in seinem Vorgarten, aber Fokko erkannte die reservierte Haltung aus der Distanz des Lakaien, das Genie wollte seine Enklave nicht wegen eines sentimentalen, von seinem Erfolg trunkenen Wiedergängers verlassen, aber er hatte wohl keine Chance gegen die Großherzigkeit des alten Kumpans, die sich später in der Altstadt unter der entschlüsselnden Wirkung des Alkohols als eine larmoyante Selbstbefleckung entpuppte, und Fokko war sofort die paar Schritte bis in den Schatten des Stellwerks gegangen, an das erste Gleis, hatte begonnen, die Waggons eines abgestellten Güterzuges drüben auf der Hörner Seite zu zählen, und als dann mit wunderbarem Getöse ein D-Zug durchgerauscht und Schwammheimer von dem Heimkehrer weichgeredet und in die Staatskarosse eingestiegen war wie ein Maurer am Tag der offenen Tür in den Wagen des Kanzlers, wäre Fokko am liebsten hier draußen geblieben, vollkommen allein in dem kleinen Haus für alle Zeit abgeschnitten von allem, was

Weitere Kostenlose Bücher