Die Uhr der Skythen (German Edition)
Hand, die sie augenscheinlich in großer Ruhe endlos nebeneinander gesetzt hat.
Welch ein liebenswürdiger Wahnsinn, denkt Fokko und schenkt dem, von dem er nicht recht weiß, ob er ein Freund oder ein Fremder ist, einen verstohlenen Blick. Der große Schwamm schreibt große Zahlen in ein großes Buch.
»Es ist bei Gott verrückt«, sagt Schwammheimer, »aber es funktioniert. Es ist der Arbeit der mittelalterlichen Kopisten ähnlich, die Italo Calvino beschrieben hat. Man besitzt ein festgelegtes Regelwerk, schreibt also frei von der Herrschaft des leeren Blattes, und doch ist der Geist in Bewegung, man überlistet die Zeit und schreibt sich in den meditativen Zustand, der den Ideen Raum gibt.«
»Verstehe, aber die Mönche schrieben die Heilige Schrift.«
»Nun ja, das mag für die Mönche besser gewesen sein. Würde ich die Bibel abschreiben, störte das womöglich die Kreise meiner eigenen Schriften.«
»Wie viele Zahlen sind es?«
»Das ist der Vorteil. Wörter müßte man zählen. Zahlen zählen sich selbst.«
Er schlägt die letzte Eintragung auf: es ist die Zahl achthundertfünfundzwanzigtausend.
»Mein Gott«, sagt Fokko, »bald eine Million.«
»Noch lange nicht. Wahrscheinlich noch ein paar Jahre.«
»Schreibst du immer bis an einen glatten Tausender, Hunderter oder so?«
»Nein, gerade nicht. Das hier ist Zufall. Es ist ja kein idiotisches Hobby wie Briefmarken sammeln oder dergleichen. Der wichtigste Vorteil ist eben, daß ich diese Arbeit jederzeit unterbrechen kann, ohne den Faden zu verlieren.«
Womöglich ist es Schwammheimers charmante Schrulligkeit, die Fokko jetzt abermals an den Karton im Container denken läßt, an den merkwürdigen Nachlaß, dessen Herzstück die Zauberuhr gewesen sein mag, aber er hätte zumindest das handgeschriebene Journal des Wissenschaftlers mitnehmen sollen, vielleicht fänden sich Hinweise auf die Uhr oder gar Erfahrungen mit ihr. Aber morgen kommt wahrscheinlich in aller Herrgottsfrühe ein Müllwagen gefahren und verschlingt diesen Bissen Vergangenheit.
»Vielleicht«, sagt Schwammheimer lächelnd und schließt das Neue Testament der Zahlen, »vielleicht ist das am Ende das einzig Vernünftige, was ich je geschrieben habe.«
»Immerhin ist es ungefähr zu zwei Dritteln voll«, bemerkt Fokko.
»Ja. Mein Atem gibt den Takt vor, mein Herzschlag zählt die Zahlen. Es ist natürlich auch eine Art Lebensbuch, es dokumentiert meine Zeit. Und was davon bleibt.«
Er verstaut das Zahlenbuch wieder in der Schublade, erhebt sich schwerfällig und schlurft wie ein Mann, der eben nachgelesen hat, daß er nur noch lächerlich wenige freie Seiten in seinem Lebensbuch beschriften wird, zum Tisch und läßt sich in seinen Sessel fallen.
»Schwamm?«
Fokko ist ihm gefolgt, sitzt ihm nun mit prüfendem Blick gegenüber wie der Leibarzt.
»Ja?«
»Ich habe dir von dem Pappkarton erzählt, in dem ich die Uhr gefunden habe.«
»Ja. Im Container.«
»Da war noch mehr.«
Schwammheimer schaut ihn an wie ein Blinder.
»Zwischen den angefressenen Schulbroten, massenhaft Papierzeugs und Styroporflocken lagen da allerlei technische Geräte, alte Dinger aus dem Physikunterricht oder so, und in dem Karton waren ein paar Lehrbücher, privater Krimskrams, ein Tagebuch und eben die Uhr in einem Holzkasten mit Intarsien.«
Unvermutet scheint er wieder von ungeheuerlicher Scharfsichtigkeit, richtet sich im Sessel auf und stellt seine Frage wie der Staatsanwalt die entscheidende am Ende des Plädoyers.
»Ein Tagebuch von wem?«
»Von einem verstorbenen Wissenschaftler.«
Nun hat er offenkundig Schwierigkeiten mit dem Gehör.
»Von wem, sagst du?«
»Sparenberg, so hieß er. Hermann-Josef Sparenberg.«
»Ja.«
»Ich habe es in der Hand gehalten, drin geblättert, drin gelesen.«
»Und?«
»Es am Ende zurückgelegt.«
»Und was stand drin?«
»Ich weiß nicht. Privates, eine Liebesgeschichte, wie es scheint, nichts mit der Uhr, aber schon etwas über die Zeit im allgemeinen, daß es den Zufall nicht gibt, weil alles immer in Bewegung ist und ohne freie Erkenntnis und Entscheidung oder so ähnlich.«
Schwammheimer schaut auf seine rechte Hand, die wie ein angewachsenes Haustier auf der Tischdecke liegt und sich sacht in schlechten Träumen schüttelt. Den mißtrauischen Blick seines Herrn aber spürt es auch im Schlaf, springt erschrocken auf, schaut sich um, was wohl einen Grund für eine Übersprungshandlung hergeben könnte und greift sich die Geneverflasche.
»Und
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