Die Uhr der Skythen (German Edition)
dieses Tagebuch«, sagt er streng und zieht den Korken aus der Flasche, »das ganz offensichtlich in einem symbiotischen Verhältnis zu deiner Zauberuhr steht, legst du in den Pappkarton zurück, damit es auf der Müllkippe vermodern kann?«
»Es war mir zu privat.«
»Wie bitte?«
»Ich wollte nicht in der Vergangenheit eines Fremden schnüffeln…«
»Du selbst hast doch von einem Nachlaß gesprochen. Und den hättest du nicht aus dem physikalischen Museum gestohlen, sondern aus einem Dreckscontainer gerettet und vor dem ewigen Vergessen bewahrt.«
»Ich konnte von seiner Bedeutung nichts ahnen, ich wußte ja noch nichts von der Uhr.«
Ohne das geringste Zittern gießt sich Schwammheimer einen Schnaps ein, verschließt die Flasche und stellt sie zurück.
»Ich könnte es holen.« Fokko deutet mit einem Daumen über die Schulter, als läge das Sparenbergsche Tagebuch in seinem Rucksack. »Ehe der Müllwagen kommt.«
»Ja, nein…«, sagt Schwammheimer und hält den Genever zwischen den Fingern wie ein Prüfinstrument. »Wahrscheinlich hast du Recht und es ist nicht sonderlich ergiebig oder interessant. Es ist nur so…«
In aller Ruhe bringt er die Prüfung an ihr Ende, trinkt das Glas aus, und sofort wird es in seiner Hand zu einem Spielzeug, das er dreht, zwischen Daumen und Zeigefinger pendeln läßt und mit der Faust umschließt.
»Es ist eine gute Geschichte«, sagt er. »Seit du mir das erste Mal die Uhr gezeigt hast, schreibe ich schon einen Roman im Kopf. Die Uhr der Skythen.«
»Wer sind die Skythen?«
»Ein altes Reitervolk.«
»Und was haben die mit meiner Uhr zu tun?«
»Nichts. Aber es klingt gut.«
Schwammheimer stellt das Glas weg.
»Außerdem ist keine Eile. Morgen ist Sonntag. Da kommt kein Müllwagen.«
»Stimmt.« Fokko hat sich aus dem Sessel erhoben, er geht ein paar Schritte auf und ab, bleibt dann vor dem Regal stehen, in dem Schwammheimers eigene Werke stehen, nimmt einen Roman in die Hand, läßt die Seiten für einen Moment durch die Finger fliegen und stellt das Buch zurück.
»Wie spät?«
»Bald elf.«
»Es war ein langer Tag, Schwamm.«
»Ich zeige dir dein Zimmer.«
An den Wänden ist die Vergangenheit ausgestellt wie in einem Museum zu postmortalen Ehren des Schriftstellers Jakob Schwammheimer, zahllose schwarzweiße, kaum kunstvolle Fotografien, ohne sinnfällige Ordnung nebeneinander geklebt wie in der Redaktion einer Zeitschrift für verschmähte Literatur, wie aus einem nachgelassenen Schuhkarton nur des dekorativen Effekts wegen oder um die alte Tapete zu kaschieren.
Fokko sucht nach dem gemeinsamen Nenner der Bilder, und es ist auf subtile Weise der Schriftsteller selbst, auch wenn er selten genug auf einem Foto zu erkennen ist, nur ein einziges Mal majestätisch auf dem Samtsofa im Crocodile , in jungen Jahren als der große Schwamm im Unterhemd an einem Strand, die weiten Hosen aufgekrempelt und mit den Füßen in der seichten Brandung, in mittleren Jahren am Steuer der prächtigen Limousine vor Dicks Zapfsäule, vor einer Hecke in einem Garten, der womöglich sein eigener ist, in den Armen einer steinalten Frau, an der Hand eines Mädchens, das den Betrachter aus seltsam durchsichtigen Augen fixiert.
Trotz der spärlichen Präsenz ist er allgegenwärtig, und Fokko hegt keinerlei Zweifel, daß hinter der Mehrzahl der Bilder, die den Schriftsteller nicht zeigen, Schwammheimer selbst steckt, als Fotograf oder Choreograph des Dichterlebens, das diskrete Gästezimmer ein Guckkasten, die Fotografien womöglich wöchentlich von ihm ergänzt, umgruppiert und aussortiert. So gestaltet er gleichsam seine Biographie permanent neu oder schreibt die Geschichte seines Lebens wiederkehrend weiter, vielleicht täglich, bevor er zu Bett geht, wie eine Gewissenerforschung, unter der die Vergangenheit immer wieder neue Gesichter annimmt, je nachdem, wie das Wetter umschlägt, die Arbeit vorangeht oder die Ängste wirksam sind.
Er führt ein eigenes Leben. Gehört zu den Menschen, die uns fraglos begleiten, die nicht nur eine Rolle in unserer Gegenwart spielen, sondern Wege gehen, von denen wir nichts wissen. Es ist dies der alte Gedanke, daß die Welt außerhalb unserer Wahrnehmung nicht existieren kann. Das Elternhaus in Pogum gibt es schon lange nicht mehr, die Tankstelle per se ist nicht realer als eine Fotografie von ihr, sie materialisiert sich erst für jeden, der ihr nahe kommt, und Eva ist erstarrt wie unter dem Einfluß der Zauberuhr. Allein wenn Fokko ihr
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