Die Uhr der Skythen (German Edition)
begegnet, wird der Schmerz, der in seinem Herzen glimmt, aufflammen, wenn er sie berührt, wird er wissen, daß sie nicht nur ein Bild ist, das sich längst unerreichbar in der Finsternis der Vergangenheit verflüchtigt hat.
Er erinnert sich an Gerüchte, die bis heute über Schwammheimer kursieren. Daß er von einer Frau geschieden sei, mit der er ein Kind haben soll, das niemals jemand gesehen hat. Daß er seinen kleinen Wohlstand nicht einer Quizshow verdanke, sondern dubiosen Geschäften an der Börse, daß es eine unbenennbare Zeit gegeben haben soll, die er in einer Heilanstalt zugebracht habe und so fort.
Gerüchte. Unsere Leben sind am Ende nichts anderes als Schemen, die durch die Träume von irgendwelchen Wesen geistern, die auf entfernten Planeten einen Rausch ausschlafen. Es gibt immer eine Unzahl von Versionen ein und derselben Wirklichkeit.
Er tritt an das Fenster und zieht den Rollladen hoch. Der Blick geht auf die Straße, auf der sie gekommen sind. Eine Laterne schneidet ein stilles Stück Welt aus der Nacht, ein halbes Dutzend beschnittener Fichten, einen Streifen Gartenzaun und das Schnittmuster einiger Reifenspuren im Schnee. Jenseits des Lichtkegels ist kaum etwas zu erkennen, die Sterne nicht, kein anderes Haus, und unvermutet sieht Fokko einen schweren Mercedes auf einer schmalen Straße einen verschneiten Berg herauffahren, auf dem Kotflügel flattert ein roter Stander, am Steuer ist ein Uniformierter zu erkennen, alles geschieht langsam, ist quasi von der Patina einer längst versunkenen Zeit überzogen und gehemmt, dennoch wird der Wagen im nächsten Moment ins Scheinwerferlicht vor Schwammheimers Haus rollen und anhalten, aus dem Schatten springt ein Soldat hervor, öffnet den Schlag und grüßt den Mann, der mit erhobenem rechten Arm aussteigt und entschlossenen Schrittes aus dem Blickfeld eilt.
Es ist nichts als ein Gespinst, das der todschweren Müdigkeit entspringt, er hat es sich ausgedacht, er hat davon gelesen oder es im Fernsehen gesehen, aber wenn es in seinem Cortex ruht, dann ist es real. Wäre es das nicht, dann wäre nichts mehr zur Wirklichkeit zu rechnen, was nicht eben im Moment geschieht, gewissermaßen außerhalb des Flusses der Zeit: nicht, daß er Eva irgendwann das erste Mal berührt hat und nicht das letzte Mal vor einer unbestimmbaren Frist. Es hat in den vergangenen einhundert Jahren Billionen und Aberbillionen von signifikanten Momenten gegeben, alles das ist Wirklichkeit – oder überhaupt nichts.
Als er im Bett liegt, scheinen die Wände zu erwachen. Nicht Schwammheimer modifiziert die Bilder regelmäßig, sie tun es selbst des nachts, und sobald Fokko das dünne Licht der Nachttischlampe löscht, werden sich die Geschichten in den Fotografien fortsetzen, der Kosmos der Wirklichkeiten gerät in seine äonenalte, atmende Bewegung, des Menschen Träume verweben sich mit den Zeiten, und nichts ist mehr sicher, nichts hat Bestand und Gültigkeit, ehe uns nicht das Tageslicht, das Ticken einer Uhr oder ein einziges Wort in die Ordnung zurückführt, die uns vor dem Wahnsinn rettet.
Wenn ich wirklich ruhig und ungestört und sicher schlafen will, denkt er und löscht das Licht, halte ich die Welt an. Er schließt die Augen und glaubt, eine Tür gehen zu hören, aber das ist wohl schon Teil des Traumes, der ihn in dieser Nacht in die Vergangenheit entführen wird. Eva steht in der Tür seiner Wohnung mit einem Koffer in der Hand, und sie fragt und sie bittet nicht, sie sagt mit einem sibyllinischen Lächeln, ich lebe jetzt mit dir, Fokko van Steen. Es ist, als sei es gestern gewesen, am letzten Tag des abgelaufenen Jahres, am letzten Tag ohne die vermaledeite Uhr, doch ehe er sie in seine Wohnung und sein Leben treten läßt und sonstwas geschieht, versinkt er in einen weltenschweren Schlaf.
Zwei helle Glockenschläge durchfliegen die Stille über der Altstadt wie die Schreie eines Wildgänsepaares. Die Nacht ist finster und regungslos wie der Ozean in seinem tiefsten Graben, die Sterne entfernen sich mit Lichtgeschwindigkeit, aber der Frost hat die Welt gereinigt, der Schnee hat ihr ein unbeflecktes Kleid geschenkt, und alles beginnt neu.
Schwerelos könnte sie die Dunkelheit durchwandern, als wäre sie selbst ein Nachtvogel auf seinem vorbestimmten Zug, würde das vergangene Leben hinter sich lassen wie eine Stadt, die man überfliegt, ein Geschehnis, das man verloren hat, und als sie durchs Heger Tor tritt und die Altstadt verläßt, ist ihr, als täte
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