Die Uhr der Skythen (German Edition)
sie es zum allerersten Male. Sie gehört sich von nun an allein. Das neue Jahr hat eine neue Epoche anbrechen lassen, mühelos hat sie sich von einer alten Geschichte trennen können, überquert die große Kreuzung auf kürzestem Wege, mühelos wird sie sich von einer neueren trennen, geht in der Mitte der Lotter Straße wie die letzte Einwohnerin der Stadt, und als ein Bus geräuschlos einen vorsichtigen Bogen um sie herum zieht, erkennt sie die wenigen Fahrgäste als Insassen, die von einer Außenstelle in die geschlossene Anstalt zurückverfrachtet werden. Nicht einen Tag, denkt sie, nicht eine Sekunde meines Lebens werde ich noch verschenken an die ausgeträumten Träume, die abgelebten Leben, und wenn ich Fokko belogen habe mit der Behauptung, für eine unbestimmte Zeit ohne jemanden leben zu wollen, der ungefragt Geschichten erzählt, so war es doch die Wahrheit, werde die Abdankung weiterspinnen, sie zum Motiv des künftigen Lebens erklären, und am Ende gehört mir die Welt: allein.
In diesem Gefühl göttlicher Unabhängigkeit tänzelt sie den Rest ihres Weges durch den Schnee bis an die Haustür, steigt leichten Sinns die Treppe hinan, als hätte sie nicht einen langen Arbeitstag hinter sich, freut sich auf ihre Wohnung, weil sie leer ist, öffnet die Tür und horcht in die Stille, die sie wie eine warmherzige Mutter empfängt, wird sich zunächst ein Bad machen, wird sich dann eine heiße Schokolade mit Kakaolikör gönnen, ein wenig Musik, die den Takt ihres eigenen Herzens besitzt, der Schlaf wird auf sie zukommen wie eine gute Schwester, hängt ihre Jacke an den Haken, legt den Schlüssel auf die Kommode, tritt ins Schlafzimmer, und auf ihrem Bett liegt wie eine unappetitliche Hinterlassenschaft der große Schwamm.
Der Geruch nach verlorener Intimität und Zigarrenrauch klebt unversehens im Raum wie Fliegendreck. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigt Viertel vor drei, und diese Zeitangabe besitzt plötzlich eine Bedeutung. Das schwache Licht, das vom Flur hereinfällt, ist allzu gnädig, sie schiebt die Vorhänge beiseite, reißt das Fenster auf, schaltet den Deckenfluter ein und betrachtet das fremde Tier in ihren Kissen.
»Raus!« sagt sie leise.
Schwammheimer erwacht. Schlägt die Bettdecke beiseite, streckt sich und reibt sich die Augen. Er trägt nichts als ein schwarzes T-Shirt, das den aufgeschwemmten Oberkörper kaschiert und die Blöße zwischen seinen kalkweißen, von Mitessern und blauen Adern besiedelten Beinen. Die Haare stehen ihm wirr vom Kopf, der melierte Bart wirkt wie ein Hautausschlag auf dem Doppelkinn, und die Kurzsichtigkeit steht ihm im Gesicht wie bei einem tumben, fetten Kind. Er ist ein alter Mann, wie hat sie ihn je berühren können!
»Sofort verläßt du dieses Bett, unverzüglich dieses Zimmer, auf der Stelle mein Leben!«
Er fischt nach der Brille auf dem Nachttisch, weil er wohl glaubt, ihre Worte nicht richtig wahrgenommen zu haben, und als er sich mit den Gläsern vor den Augen zurechtfindet, erkennt er in ihrer Miene, was sie gesagt hat, dreht sich und sitzt auf der Bettkante wie ein Kranker. Sein Geschlecht schaut unter dem Hemd hervor wie eine herausgequollene Innerei, er knibbelt an einem Pickel auf dem Knie und blinzelt zu ihr auf.
»Ich hatte Sehnsucht, Eva.«
Ihre Wut indes ist frisch.
»Woher hast du den Schlüssel?«
»Von Fokko ausgeliehen.«
»Er ist bei dir.«
»Wo sollte er sonst hin?«
Er erwartet wohl kaum eine Antwort, hebt die Socken auf, die auf dem Boden liegen, und streift sie umständlich über seine violett geäderten Füße. Dann steht er auf, greift sich die Shorts, die über ihrem Ankleidesessel hängen, und ehe er hineinschlüpft, schwankend wie ein trunkener Marabu, wiegt er in einer verwirrten Gebärde beschämter Lüsternheit sein Gemächt in der Hand. Sie wendet sich ab. Ein heißes Bad fliegt ihr durch den Kopf, eine Schokolade mit Likör, Musik, die durch das dunkle Schlafzimmer streicht wie ein sanfter Wind im Sommer, aber alles ist jetzt laut und grell, sie will das Haus auf der Stelle wieder verlassen, will in die Nacht zurück, in die federleichte Stimmung, die sie hergetragen hat.
»Eva«, hört sie ihn hinter sich flehen, »laß mich sagen, weshalb ich gekommen bin. Ich hatte Sehnsucht, ja. Aber mehr als das.«
Was soll es mehr geben? Er erklärt es nicht. Erklärt es nicht sofort. Hofft wahrscheinlich, er könnte mit zauberhaften Dichterworten das Bild löschen und überschreiben, das ihr für alle Ewigkeit auf der
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