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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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der Geduld, eine Frage der Zuneigung. Er gibt ihre Hand ein Stück frei und setzt einen langen Kuß darauf. In ihren Augen ist nichts zu erkennen als die Konzentration auf die schlichte Absicht, die sie eben hatte: etwas aus ihrem Rucksack zu nehmen.
    Alles kann er nun tun.
    Der Gedanke ist wie Gift. Aber was macht er eigentlich hier? Ist er ihr gefolgt, weil er für den Rest der Ewigkeit ihre Hand halten möchte? Wird er ihr noch einmal als Schutzengel erscheinen? Will er sie mit Schwammheimerschen Tricks betören und sich einen wie auch immer zu verstehenden Vorteil verschaffen?
    Er will sie nur nicht für immer verlieren. Unerträglich ist ihm die Vorstellung, sie wäre mit diesem Zug nach Bad Bentheim oder sonstwo verschwunden, unerreichbar selbst für den, der die Zeit anhalten und alberne Kunststücke vollführen kann. Er will nur wissen, wie sie heißt und wo sie wohnt. Und es ist nichts einfacher, als das herauszufinden.
    Ihre Hand legt er auf ihr Knie, löst die andere vom Rucksack und nimmt ihn an sich. Es ist ihm äußerst unangenehm, in ihren Sachen zu spionieren, auch wenn es keinen Zeugen gibt, wenn niemals jemand auf die Idee kommen wird, daß er in einer Seitentasche einen Kalender findet, auf dessen erster Seite ihr Name steht: Merreth. Er sagt ihn einige Male leise dahin, wie man sich einen Weg einprägt. Merreth Winterboer heißt sie und kommt aus Jemgum. Für einen Augenblick denkt er daran, sich ihren Namen zu notieren, aber er ist sicher, daß er ihn nicht vergessen wird, gleichgültig, in welchem Zeitsystem er sich just befinden mag: Merreth Winterboer.
    Gedankenverloren blättert er in ihrem Kalender, sieht ein paar Eintragungen, aber er liest sie nicht, betrachtet lediglich die Handschrift, in der er dieselbe Eleganz zu finden glaubt, die er ihren Bewegungen zuschreibt. Er schließt den Kalender. Es ist ein kurioses Glück. Er ist an ihrer Seite, als wäre er es immer gewesen, und sie weiß nichts von ihm, sitzt für sich im Zug und fährt wahrscheinlich nach Hause.
    Aus Jemgum kommt sie.
    Der Zufall, sagt Schwammheimer, ist meist nichts anderes als ein mißverstandenes Glück. Vielleicht hat er ja Recht. Sie kommt aus seiner Heimat. Und sie fährt, sobald er sie läßt, heimwärts. Er steckt den Kalender zurück, arrangiert ihre Hände am Rucksack, beugt sich zu ihr und gibt ihr einen Kuß auf die kühle Wange.
    Es ist, denkt er, als er vor ihr im Gang steht, nichts weiter als ein unglückliches Symbol für seine verqueren Wünsche, er nimmt sich eine Zärtlichkeit aus dem zeitlosen Raum wie Schwammheimer eine Hand voll Geldscheine aus einer Kasse. Es ist nicht echt.
    Er verschwindet hinter der Zwischentür, postiert sich im Schatten und schließt die Uhr in der Tasche seines Parkas. Der verschnürte Sportler fängt sogleich zu zappeln an. Eine Tür knallt, und der Zug kommt mit einem Ruck in Fahrt. Ihre Bewegungen sind auch aus der Distanz wie er sie sich erdacht hat, still, sicher und von einer betäubenden Grazie. Jetzt holt sie ausgerechnet den Kalender aus dem Rucksack, nimmt einen Stift und notiert was. Die kalligraphische Schönheit entdeckt er in ihrer ausbalancierten Haltung wieder, nichts Lineares ist an ihr, sanft sind ihre Bewegungen, sie fließen im einzig adäquaten Zeitmaß und erscheinen ihm voll eines starken Sinns. Während sie schreibt, scheint sie in einer klösterlichen Ausschließlichkeit zu versinken, nichts lenkt sie ab, nichts macht ihr Angst, und ein immerwaches Lächeln ruht in ihren Augen.
    Er wirft einen Blick aus dem Fenster. Verschneite Felder ziehen vorüber, eine verschlafene Siedlung auf der anderen Seite. Sie verlassen bereits die Stadt. Er könnte ihr folgen, nach Jemgum oder sonstwohin, könnte ohne weiteres in ihrer Nähe bleiben und sich jederzeit unerkannt entfernen, er könnte ihr mit einer Serie von Zufällen die Sinne verwirren und sie mit allerlei Kunststücken betören.
    Der Schaffner kommt und fragt nach dem Fahrschein. Fokko tastet nach der Uhr in der Manteltasche. Es ist leicht, ihn zu überlisten. Der Schatten einer Brücke zieht durch den Waggon, dann fällt ein Sonnenstrahl auf das Gesicht des Beamten, und sein Blinzeln friert ein. Rechter Hand liegt ein Gewerbegebiet, links Wald. Fokko entschließt sich zu gehen. Er wird sie wiedersehen, gewiß, wirft dem Bildnis einer schreibenden Frau einen letzten, flüchtigen Blick zu, springt zur Linken aus dem Waggon auf die Gleise, und als er die Tür zugeschlagen hat, erkennt er erschrocken wohl

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