Die Uhr der Skythen (German Edition)
eines Wintermorgens. Fokko nimmt ihm die Uhr aus den Händen und legt sie geöffnet auf die Brüstung. Er hat alle Zeit. Und er wird die Uhr nicht in Schwammheimers Gegenwart schließen. Nicht jetzt.
Hinter der nächsten Ecke des Kreuzgangs findet er ein Portal. In sonderbarer Andacht betritt er das Gotteshaus, in dem die Gemeinde der Gläubigen im frommen Gestus des Gesangs erstarrt ist. Es ist unheimlich, wie ein nekrotisches Museum, in dem die Toten leben, ihr Gesang schwebt in der riesigen Halle und dennoch ist es sterbensstill. Und es gibt ein Geheimnis um das Licht, das im Altarraum ein ewiges zu sein scheint, obwohl es von nichts anderem ausgehen kann als von den Kerzen, deren Flammen nicht der leiseste Hauch bewegt. Fokko nimmt einem Mann in der Nähe das Gesangbuch aus der Hand und kehrt wieder um.
Bruder Schwammheimer betrachtet in tiefster Versenkung seine friedlichen Finger. Fokko sucht ein Lied heraus, schlägt es auf und legt das Gesangbuch geöffnet in die Hände des spitzbübischen Mönchs: Wir sind nur Gast auf Erden . Mit dem letzten, mitleidigen Blick, den er dem erratischen Freund schenkt, blitzt etwas silbern aus den Falten der schwarzen Kleider hervor: die Kette, an der die Taschenuhr hängt. Es ist einen Versuch wert. Er zieht an der Kette, die Uhr dreht sich vor seinem Auge und zeigt zehn Uhr fünfundzwanzig. Sie ist ein Teil der materiellen Welt, denkt Fokko, löst die Taschenuhr von der Kette und hält sie in der geschlossenen Hand ans Ohr. Sie tickt.
»Die leih’ ich mir mal aus«, sagt er mit einem Grinsen und steckt sie in die Hosentasche. Uhr um Uhr. Er nimmt den Rucksack auf den Rücken, hält die Zauberuhr geöffnet in der Hand und schaut zum rechten Grabfeld, auf dem zwei Dutzend kupferne Kleeblattkreuze vom Leben verstorbener Ordensschwestern Zeugnis geben. Was ist jetzt mit den Toten? Vielleicht entsteht ein Riss in der ewigen Ruhe, durch den die Seelen der Hingegangenen für die Zeit, die die Zeit nicht existiert, aus den Gräbern in ein Zwischenreich aufsteigen, in dem ihnen eine flüchtige Erinnerung an das Leben zuteil wird. Die absolute Stille ist wie eine barbarische Folter, die Bewegungslosigkeit der Welt treibt ihn in Verzweiflung, das Alleinsein in den Irrsinn. In der Nacht könnte er mit der geöffneten Uhr wiederkommen, ungestört eine Grabplatte beiseite schieben und die Zauberuhr geschlossen zwischen den Gebeinen einer duldsamen Schwester für den Rest aller Zeit begraben.
Ohne einen Blick zurück verläßt er den Kreuzgang.
Alles ist unverändert. Der Amputierte raucht in der Einfahrt zum Marienhospital, auf der vierspurigen Straße vor dem Bahnhof ist noch immer Stau, den Fokko nun aber, mit der geöffneten Uhr in der Hand, gelassen durchschreitet, das Taxi wartet vor der Ampel, und die korpulente Dame sitzt weiterhin sprachlos und entmutigt im Fond.
Das Mädchen ist noch immer im Sturz begriffen. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Er könnte in aller Ruhe in ihrem Rucksack nach ihren Daten forschen, könnte sich zeitlos in den lichtblauen Augen verlieren, in der artistischen Pose, die ihr Gleichgewicht allein zwischen ihrem Zeigefinger und der Säule ausbalanciert, die die Bahnhofskuppel trägt.
Als sie strauchelte, war er zwei Schritte weit weg, hätte den Sturz nicht mehr verhindern können, nur der Zufall der Schwammheimerschen Anmaßung hat sie gerettet. Aber davon weiß sie nichts, in ihrem Bewußtsein muß der Schreck des Stolperns konserviert sein, die Erwartung des Sturzes. Das könnte er nutzen. Er weiß jetzt wie. Geht zurück, stellt sich ihr gegenüber, öffnet die Arme ein wenig und schließt die Uhr. Sie fällt ihm entgegen, er fängt sie auf und hält sie umarmt. Die Zeit hält auf eine ganz andere Art inne.
Da ist zuerst dieser Duft nach Jasmin. Oder Zimt. Dann spürt er die gemeinsame Balance, die sie gewinnen wie in einem trägen Tanz voll grotesker Schönheit. Als sie sich gefangen haben, stehen sie für einen Atemzug voreinander, halten sich getrost in den Armen, und sie schaut ihm tief in die Augen, bezaubert ihn durch das herzzerreißende Lächeln ihrer Lippen, die wie ein eigenständiges Meeresgetier sind, ein rostrotes, blasses Geschöpf aus den unergründlichen Tiefen der Ozeane, das sich wohlig streckt.
Jetzt erst machen sie sich voneinander los, verlegen und verzaubert.
»Danke«, sagt sie still, »ich bin spät dran.« Beglückt schaut er ihr nach, wie sie durch die Halle davonläuft, versunken registriert er, daß der
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