Die Uhr der Skythen (German Edition)
Betrieb wieder in Gang gekommen ist, der Lärm, die divergierenden Gerüche und all die Bewegungen, die jede für sich vielleicht autonom ist, in ihrer Summe aber sind sie ein singuläres Geschöpf: wie die Gestalt eines Zugvogelschwarms. Der Skispringer auf dem Bildschirm ist glücklich gelandet, zieht eine geschwungene Bahn im Zielraum und reckt die Arme in die Höhe.
Da wird ihm bewußt, daß er sie niemals wiedersehen wird. Sie ist die Treppe hoch, unter der Anzeigetafel, die gerade eben rauschend und klappernd die Verspätung eines Zuges aus Amsterdam verkündet. Er rennt hinterher, kämpft sich durch das Gewühl, und erst auf dem Bahnsteig fällt ihm ein, wie töricht er ist: er muß nur die Uhr öffnen, und alles ist, wie es war.
Zunächst ist es immer die himmlische Stille, die ihn aus der Zeit nimmt, die aufgemalten Geschehnisse. Dann erst begreift er die einsame Macht, die ihm die Reglosigkeit schenkt. Er kann alles in größter Ruhe denken und tun, kann sich von Schwammheimer entfernen, kann bei Eva eindringen oder nach der Frau mit den bernsteinfarbenen Lippen suchen.
Auf dem Bahnsteig ist sie nicht. Er geht zu den west-östlichen Gleisen hinunter. Da steht ein Zug nach Bad Bentheim. Die Uhr zeigt halb elf, ein Beamter lehnt aus einer Tür des letzten Wagens und macht dem Lokführer ein Zeichen, das der in hundert Jahren nicht begreifen wird. Fokko zwängt sich am Schaffner vorbei und flaniert durch den Zug. Die Fahrgäste haben sich just eingerichtet, wirtschaften mit ihren Habseligkeiten, lesen oder schauen aus dem Fenster auf den Bahnsteig, als wollten sie sich vor Beginn der Fahrt der Verhältnisse vergewissern: eine Reise mit der Eisenbahn ist gleichsam der Eintritt in eine parallele Sphäre, man besteigt ein andersartiges System, verweilt darin quasi passiv, und nach einer Frist findet man sich in Bad Bentheim wieder, wohin man mit seiner normalen Fortbewegungsmöglichkeit in einem Tag nicht kommt.
Es ist dem Zeitstillstand vergleichbar. Und dem Schlaf.
Sie sitzt im vorletzten Waggon, hat die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf ein wenig gesenkt, den Körper eine Spur weit zur Seite gedreht, weil sie sich im Moment mit ihrem Rucksack auf dem Nebensitz beschäftigt, hält ihn mit der linken Hand fest und reicht mit der rechten hinein. Es ist eine Beschäftigung von banaler Alltäglichkeit, aber Fokko sieht trotz des Stillstandes den sanften Fluss Ihrer Bewegungen, die Anmut, die in diesem Bild aufgeschrieben steht wie in Jan Vermeers Perlenwägerin .
Ihr Mantel hängt an einem Haken beim Fenster. Den Rest ihrer Kleidung scheint sie selbst gestrickt zu haben, den bunten Pullover, die geringelten Strümpfe und den dunkelgrünen Wollrock. Die Spange, die ihr wildes, rotes Haar zähmt, ist aus einer alten Gabel geformt, und am rechten Ohr trägt sie einen schlichten, silbernen Ring. In ihrer Miene steht nichts als die Konzentration auf das, was sie eben aus dem Rucksack suchen will, vielleicht geht ein Gedanke auch nach innen und erinnert die seltsame Szene in der Bahnhofshalle, das Straucheln und den merkwürdigen Zufall, daß ein Fremder zur Stelle war und sie vor dem Sturz bewahrte.
Vielleicht ein Schutzengel, mag sie jetzt denken.
Auf der anderen Seite des Waggons sitzt ein junger Mann in übergroßen Sportkleidern mit den Händen in den Hosentaschen vergraben, hat sich die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen und schielt mit gierigen Augen darunter hervor diagonal zu ihr hinüber. Dieser Blick kommt Fokko wie eine schamlose Berührung vor. Er zieht dem Kerl die Mütze über die Augen, verbindet die Bänder, die überall aus den Kleidern hervorbaumeln und macht sich zum Schluß die Mühe, die Schnürsenkel der Turnschuhe sorgfältigst miteinander zu verknoten. Dann setzt er sich ihr gegenüber und schaut sie lange an. Ihre Schönheit ist so unbegreiflich wie evident, es ist der Zauber ihrer Bewegungen, die er jetzt das zweite Mal nur in der Erstarrung betrachten kann, aber das ist nichts alles. Dazu kommt eine scheue Art der Selbstgewißheit, etwas wie eine gute Unschuld, eine eherne Unverletzlichkeit oder so, auf jeden Fall etwas von magischer Rätselhaftigkeit.
Vorsichtig nimmt er ihre Hand aus dem Rucksack, legt sie in seine linke und bedeckt sie mit der rechten. So hält er für eine unbestimmte Frist inne. Ihre Hand, so kommt es ihm vor, wird in seinen Händen wärmer. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, jemanden in sein paralleles Universum zu versetzen, vielleicht eine Frage
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