Die Uhr der Skythen (German Edition)
zwischen den Gräbern gehockt, bis der Bus mit den Gymnasiasten den langen Bogen um die Backsteinkirche zirkelte, schwerfällig wie ein Binnenschiffer. Möchtest du da drinne sitzen, fragte Fox regelmäßig, schwang sich auf das Rad und krümmte sich über den Lenker, als könnten sie dem straffen Seewind so entkommen.
Bisweilen hatte er sich schon gewünscht, zu denen im Bus zu gehören, die aus Leer kamen und denen zweifellos die Zukunft gehörte, von der sie beide im Schatten der Critzumer Kirche phantasierten. Fox hat das nicht berührt. Der wollte Maler werden und das Geld als Fährmann verdienen, das wußte inzwischen jeder im Dorf, und die Fischer begrüßten ihn wie einen der ihren, wenn sie in den Ditzumer Hafen eingelaufen waren, wo sie an der Kaimauer saßen, den Möwen nachgafften und bei Gelegenheit den Mädchen.
Das alles ist heillos lange her, aber die Zeit anzuhalten, ist Irrsinn. Für eine Zeitmaschine allerdings gäbe Fokko seine verunreinigte Seele her, würde sich auf der Stelle unter die Weiden wünschen an einem Tag mit wenig Wind, die in den Bus gesperrten Gymnasiasten sind noch lange nicht in Sicht, Meister Fox hockt an einem Grabstein, hat die Tasche auf den Beinen, darauf ein Heft aufgeschlagen und zeichnet mit einem Bleistift die Critzumer Kirche windschief und so echt, als hätte man sie nach seiner Skizze gebaut.
Am Gut Leye glitzert das Sonnenlicht in den Fensterscheiben, auf goldenen Kugeln und in der filigranen Spitze eines Brunnens. Fokko zieht Schwammheimers Taschenuhr hervor. Viertel vor elf. Das kommt ihm merkwürdig vor, aber wahrscheinlich verliert er allmählich sein natürliches Zeitgefühl. Eine Frau auf einem großen Pferd kommt aus dem Wald, nickt ihm aristokratisch zu, und als sie im Schritt an ihm vorüber will, fragt er nach der Zeit. In aller Ruhe zügelt sie das Tier, läßt es eine halbe Drehung vollführen und bleibt vor Fokko stehen. Aus den Pferdenüstern steigt der Dampf, als würde sich da drinnen jemand einen Kaffee kochen. Mit den Stiefeln und der engen Reithose strahlt die Dame eine erotische Strenge aus, die ihm vertraut ist. Mit einem Handschuhfinger streicht sie den Ärmel des wattierten Jagdsakkos zurück, wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr, die geradeso golden glänzt wie die architektonischen Devotionalien ihres Chateaus.
»Viertel vor elf«, sagt sie und greift wieder nach den Zügeln des tänzelnden Pferdes.
»Ach ja…« Vielleicht braucht Schwammheimers Uhr Hautkontakt und läuft nicht in der Hosentasche, wenn die Zeit stillsteht. Aber das ist ihm jetzt absolut gleichgültig. Er steckt sie weg.
»Frohes Neues Jahr!« Es klingt wie ein Befehl. Die Baronesse wirft einen argwöhnischen Blick auf die Uhr in Fokkos Hand, läßt das Pferd um ihn herum die Drehung vollenden und entfernt sich leichten Trabes in Richtung der Stallungen an der westlichen Flanke des Anwesens.
»Danke, gleichfalls…!«
Nur für eine Sekunde fliegt ihm durch den Kopf, was er mit der feudalen Dame und dem vierbeinigen Kaffeekocher alles anstellen kann, wenn er die Zauberuhr hervorholt, aber er verscheucht die uncharmanten Einfälle wie einen Mückenschwarm mit einer ungestümen Handbewegung, schaut sich um und macht einen Plan. Er wird durch die Allee gehen, am Flugplatz vorbei, am See entlang und ins winterliche Heger Holz. Er wird mit Eva über die Modalitäten des Abschieds sprechen, wird morgen früh pünktlich zur Arbeit gehen, Dick um sofortigen Urlaub bitten, einen Zug nach Bad Bentheim nehmen, in Rheine umsteigen, am Nachmittag im Rheiderland sein und an der Ampel in Jemgum läuft sie ihm über den Weg. Merreth Winterboer.
Und dann? Was macht er dann? Er wirft einen Blick zurück. Die herrschaftliche Amazone ist fort, aber ihr Palais leuchtet weiterhin im güldenen Licht der Wintersonne. Er geht los. Es ist nicht nur Merreth. Es ist ebenso Fox, den er wohl ein Menschenalter nicht gesehen hat, das karge Land, die Weite, die Stille, die eine belebte ist, nicht die Todesstille unter dem Zeitstillstand, die ihn lähmt und gruselt, als läge er in seinem eigenen Grab.
Haben wir uns nicht schon einmal gesehen, wird er fragen. Sie wird ihn mit ihren schönen Perlenaugen wiedererkennen, ja, wird sie sagen, im Osnabrücker Hauptbahnhof, da hast du mich aufgefangen. Es ist eine tiefe Sehnsucht, die ihn beseelt. Nach dieser Frau, nach seinem Land und den Menschen. Er will hier weg, begreift plötzlich nicht mehr, wie er es in dieser feindlichen Stadt ausgehalten hat,
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