Die Uhr der Skythen (German Edition)
älteren Ehepaar auf dem Flur wie ein Staubsaugervertreter, die zeitlose Zeit wird mit mir allein ablaufen, eine Mondphase lang, ein Jahr oder für den Rest eines Lebens in unheilvoller Einsamkeit.
Beim Eingang zum Marienhospital bleibt er stehen. Ein Beinamputierter steht unter dem Dach der Einfahrt, stützt seinen Stumpf routiniert auf den Handgriff der Krücke und hält eine Zigarette zwischen den Lippen. Eine Ordensschwester fegt den Gehsteig vom Schnee frei. Aus einem Kellerfenster steigt eine absolut unbewegliche Dampfwolke auf: es ist wie ein blinder Fleck, eine schadhafte Stelle in der Wahrnehmung. Wenn Schwammheimer ins Krankenhaus gegangen ist, gibt es wieder tausend Möglichkeiten, wo er stecken könnte. Es ist aussichtslos.
Die Stille ist die auf dem Grund des Ozeans. Sein Puls pocht überlaut, und es kommt ihm vor, als höre er das eigene Blut durch den Kopf rauschen. Halb elf am Sonntag. Da müßte in der Johanniskirche Gottesdienst sein, um zehn Uhr Hochamt wahrscheinlich, und da er Schwammheimers seltsame Affinität zur Kirche kennt, ist das eine Möglichkeit. Er hat auf dem Höhepunkt der Predigt oder der Wandlung gottgleich den irdischen Weltenlauf zum Stillstand gebracht und kniet nun in ewiger Anbetung unter den Gläubigen.
Vom Parkplatz führen zahlreiche Spuren im Schnee auf den Nebeneingang der Kirche zu. Es ist einen Versuch wert. Fokko öffnet die schwere Tür und findet sich im Kreuzgang der Kirche, ein jahrhundertaltes Karree, das einen bescheidenen Friedhof umfängt. Die Stille ist jetzt überall, aber hier ist sie immerwährend, von hier geht sie aus, wenn sich auf den Straßen ringsum das irdische Leben austollt. Auf Zehenspitzen macht er ein paar Schritte in das Innere der Kontemplation, sucht nach dem Licht, das matt durch die Arkaden fällt und geometrische Muster auf die uralten Quader des steinernen Fußbodens zeichnet, da erkennt er unter einem der Spitzbögen den großen Schwammheimer.
»Gott sei Dank«, murmelt er erleichtert.
Der Schriftsteller sitzt in schwarzen Kleidern wie ein Ordensbruder auf einer Brüstung der Arkaden an das dreiteilige gotische Maßwerk gelehnt, ist vermeintlich ins Brevier vertieft, hält aber, wie Fokko sich vergewissert, mit großen Augen die Uhr der Skythen geöffnet in den Händen. Er betrachtet ihn genauer. Seine Haltung ist vertraut, der runde Rücken, der schwere Kopf, der sich kurzsichtig über den Schatz beugt, den die zittrigen Hände in aller Ruhe halten. Der Wind, der über die Gräber gegangen sein mag, hat ihm das graue Haar in die Stirn geweht, das diffuse Licht, das trotz seiner exorbitanten Geschwindigkeit zum Stillstand gekommen sein und alles in Finsternis versenkt haben müßte, glitzert gleichwohl auf den Gläsern seiner Nickelbrille.
Er könnte die Uhr noch in Schwammheimers Händen schließen, sie ihm dann mit einem väterlichen Blick aus den Fingern nehmen wie einem Kind ein gefährliches Spielzeug, er würde ihn auslachen und in den Arm nehmen, die liturgischen Gesänge zögen von der Kirche her unter die Kreuzgewölbe, der Wind wäre wieder da, das Licht vielleicht klarer, und mit vielen vergeblichen Worten versuchten sie das Wunder des Zeitstillstandes zu begreifen und gingen in einträchtiger Ratlosigkeit heim. Er könnte jedoch genauso gut auf jegliche Erklärung verzichten, weil man nicht jeden Prozeß, den man nutzt, begreifen muß, könnte sich mit Schwammheimers ideologischem Beistand Vorteile verschaffen, Kleingeld, Ehre und Zuneigung, aber in dessen Gesichtsausdruck scheint etwas anderes geschrieben zu stehen als Erwartung, Freude und Staunen: so was wie Gier.
Er wird es wieder versuchen. Wird mit seinem Benz gemütlich nach Italien knattern, sich an den Gardasee setzen, einen Grappa bestellen und die prächtige Welt anhalten. Fokko könnte die Uhr zuklappen und seinem Freund ein paar ermahnende Worte sagen, aber er will sich weder der unangenehmen Grimasse aussetzen, noch den fundamentalen Fragen, will ferner nicht, daß sich die Frau mit den lichtblauen Augen bei ihrem unvermeidlichen Sturz ernsthaft versehrt.
Sein Rucksack steht auf dem Boden. Schwammheimer hat ihn bestohlen. Hätte ihn wohl schlicht im Bahnhof vergessen, wenn er selbst die Zeit hätte anhalten und den Weltenlauf bestimmen können, wäre längst auf Diebestour, täuschte sich ein feines Leben zusammen, eine glänzende Karriere als Schriftsteller und Liebhaber. Aber nun stellt er nichts weiter dar als den alternden Mönch im schwachen Licht
Weitere Kostenlose Bücher