Die Uhr der Skythen (German Edition)
Kahn der keinen anderen Namen hat als Fähre .
Ein fetter Mercedes versucht eben, rückwärts an Bord zu kommen. Der Fährmann steht dabei und gibt sparsame Hinweise mit der Hand. Auch ohne die Kapitänsmütze und die Kasse vor dem Bauch würde er ihn erkennen, die Silhouette, die schlaksigen Bewegungen, es könnte in einer Arbeitsbrigade am Jangtsekiang sein oder an einer Fußgängerampel in Manhattan: dies ist sein alter Freund Hinrich de Vries, der zeitlebens Fox genannt wurde, und bis heute weiß kein Mensch, wieso eigentlich.
Die Freude brennt plötzlich wie ein heftiges Fieber, er geht an Deck, stellt den Koffer ab und postiert sich unauffällig an der Reling. Außer dem Mercedes und ein paar feixenden Kindern will niemand rüber. Fox schaut ein letztes Mal die Fährstraße hoch, ob noch jemand kommt, dann hantiert er mit der Bugklappe und macht den Kahn los.
Er hat ihn noch nicht bemerkt. Wenn er sich umdreht und auf Fokko zukommt, wird er ihn im ersten Moment erkennen, wird auf ihn zustürzen, ihn umarmen und drücken, ihn in seine Kapitänsbutze zerren, und während er den Diesel aufdreht, die Fähre rückwärts vom Anleger zieht und wendet, wird er bis Ditzum nicht aufhören, auf ihn einzureden, die Neuigkeiten der letzten Jahre zu verbreiten, tausend Fragen zu stellen, ihn immer wieder anzufassen, als wollte er sichergehen, daß es nicht der Klabautermann ist, der an seiner Seite steht und sich freut.
Fox kassiert den Mercedes ab, dann kommt er auf ihn zu, hat schon einen Fahrschein aus dem Kassenbuch gerissen, hält ihn flatternd in den sachten Wind und äugt skeptisch das Fahrwasser abwärts, als könnte sonst ein Riesentanker von der Ems hochkommen.
»Moin«, sagt er und schaut Fokko in die Augen.
Es ist, als hätten sie gestern Abend im Fährhaus gesessen, um Abschied zu nehmen. Das viele Bier hatte Foxens Ratlosigkeit kein Stück erweichen können, was willste da, in solch einer Stadt, wo sie rumrennen wie die Ameisen, was kannste da machen, was hier nicht geht? Komm mit mir auf einen Pott, wir gehen auf die Seefahrtschule nach Leer, dann haben wir irgendwann ein Patent, tuckern auf der Ems rum, im Emdener Hafen oder nach Borkum und atmen gute Luft. Am nächsten Morgen hatte er ihn über den Fluß begleitet, in Petkum auf die Schulter geklopft und ein letztes Mal ins Auge gesehen: Mach was!
»Bleibste länger?« fragt Fox mit einem Blick zum Koffer.
Er hat sich kein Stück verändert. Ist lang und schlaksig, hat einem krummen Rücken wie ein friesischer Krähenvogel, der es gewohnt ist, den Kopf gegen den grimmigen Nordwest zwischen die Schultern zu ziehen. Das Haar trägt er noch immer wie der Kollege Dürer bis auf die Schulterblätter, wellig, von grauen Strähnen durchzogen, nur daß er es wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, wenn er in seeblauem Overall, gelber Öljacke und mit der Kapitänsmütze auf den sieben Meeren unterwegs ist. Seine Haut ist grau wie der Himmel über der Ems, die Nase hat was vom Schnabel eines Raubvogels, die Augen sind seit jeher die eines Adlers gewesen: komplett ein Vogelmensch, unbestechlich und frei.
Er ist im Ruderhaus verschwunden, hängt die Kasse an einen Haken, prüft mit einem Blick von dreihundertsechzig Grad von der Mitte des Kahns die Großwetterlage der restlichen Welt, greift in das Ruder und drückt den Maschinenhebel für einen Atemzug nach unten. Der Diesel dreht höher, die Fähre zieht sich sacht vom Ufer weg, dreht sich auf der Stelle und bleibt in der Mitte des Fahrwassers liegen, bis der Steuermann den Hebel bedächtig nach vorn schiebt und das Schiff langsam Richtung Ems tuckert.
Das Seitenfenster des Steuerstandes ist geöffnet. Fokko schaut zu, wie Fox mit der einen Hand das Ruder ausbalanciert, mit der anderen den Maschinenhebel befühlt, um den Puls des Diesels zu prüfen, das Herz des Schiffes, das in den Instrumenten pocht, flatternd in der Frontscheibe, durch die der Steuermann einen schnurgeraden Blick auf die Fahrrinne schickt, als wäre er bei Nacht und Nebel unterwegs. Und im Rückspiegel an der Ecke des Häuschens verschwindet zitternd das Bild der Petkumer Kirche.
Alles geschieht ohne jegliche Eile. All die Jahre Tag für Tag. Die Zeit, denkt Fokko, nimmt sich ihre Zeit. Und Fox ist seit jeher mit ihr in einem ursprünglichen Gleichklang, würde niemals versuchen, auch nur eine Minute schneller über die Ems zu kommen als am Tag zuvor.
»Ich bleib jetzt«, sagt Fokko.
Fox nickt.
»Für immer.«
Fox nickt
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