Die Uhr der Skythen (German Edition)
abermals, und ein Lächeln scheint in seinem Augenwinkel zu keimen, aber es ist wohl nur der frische Wind, der unversehens steuerbords in das Ruderhaus geweht kommt und ihn zwinkern läßt.
»Weißt du was von Pogum?« fragt Fokko.
»War lange nicht da.«
Die Fähre zieht auf die Ems hinaus. Gegen die Strömung nimmt Fox die zweite Hand ans Ruder, sein Blick scannt den Fluß von Ost nach West, niemand unterwegs, das Wasser ist bleigrau wie der Himmel, ein wenig kabbelig unter dem kalten Wind, dennoch ist Fokko ergriffen von der erhabenen Schönheit seines Flusses.
»Wird das Wetter?«
»Regen.«
Mittens der Fahrrinne legt Fox das Ruder mit einer langen Bewegung nach Backbord. Das Schiff nimmt Kurs flußaufwärts. Am linken Ufer stehen Windräder, am Horizont ist das neue Sperrwerk zu erkennen und steuerbords als schwacher Streifen der Deich zwischen Ditzum und Pogum: ihre Heimat.
»Meinen Vater mal gesehen?«
Fox schüttelt den Kopf.
In einem pathetischen Bogen verläßt die Fähre die Ems, fährt in den Hafen von Ditzum ein und legt an zwei eisenern Pollern an. Die Bugklappe öffnet sich direkt auf den Platz vor dem Sieltor, der schräg aus dem Hafenbecken kriecht wie ein Strand. Da gibt es aber einen Knick unter Wasser, wo das asphaltierte Gestade lotrecht abbricht wie jede andere Kaimauer, und Fokko, da er die vertraute Szenerie betrachtet, erinnert heiteren Sinns den Schulfreund Enno Boelsum, der sich als Viertklässler das alte Rad seines Großvaters aus dem Schuppen stiebitzt und stolze Kurven auf dem Hafenplatz gedreht hatte, ehe ihn der Übermut oder eine vom Schicksal geschickte Bö eine elegante Schleife durch das Wasser hatte machen lassen, das am äußersten und letzten Punkt der tollen Fahrt plötzlich nicht mehr seicht war und den Knaben mitsamt Fahrrad in einer Sekunde verschlang. Einer der Fischer, der das Kunststück beobachtet hatte, zog den zappelnden Akrobaten mit einem Bootshaken aus der trüben Brühe, fischte auch das Rad heraus, und unter dem Beifall der Seeleute radelte Enno Boelsum tropfnass heim.
Das ist tatsächlich einmal geschehen. Genau an diesem Ort.
Er nimmt seinen Koffer, verläßt die Fähre und wartet auf Fox. Es ist alles wie immer. Die Fischbude steht da, verschlossen und mit einem Pappschild versehen, das vermutlich vom Datum der Wiedereröffnung kündet. Vor ihr steht das merkwürdig schräge Plateau, das die Neigung des Platzes ausgleicht. Aus der Halle der Werft hört man die Blechmusik des Niethammers, ein paar kleinere Schiffe und eine schnieke Holzyacht liegen auf Reede, und davor dümpeln ein paar alte Kähne im Hafenbecken. Die meisten Kutter sind unterwegs, und das neue Touristenhaus hält Winterschlaf. Am Sieltor beginnt der Deich, der sich bis Pogum zieht, wo er in einem Bogen abknickt nach Dyksterhusen rund um den Dollart bis nach Holland und Delfzijl. Von da läuft er wahrscheinlich die komplette niederländische Küste lang, als Abschlußdeich der Zuiderzee, als Sperrwerk in der Scheldemündung und so weiter vielleicht um Belgien, Frankreich und Portugal herum bis mindestens Gibraltar.
»Krieg’ noch zwei Euro.«
Fox. Wie ein gelber Storch auf blauen Beinen kommt er dahergestakst und hält die Hand auf. Als Fokko indes Anstalten macht, in seinen Taschen nach Münzen zu suchen, winkt er grinsend ab, zupft den Freund am Ärmel, schnappt sich den Koffer und geht voran.
»Erst mal Mittag.«
Die Häuser an der Kirchstraße sind rausgeputzt, die Vorgärten aufgeräumt und von einer dünnen Schicht grauen Schnees bedeckt. Der Kirchturm, das glaubt Fokko jetzt das erste Mal zu erkennen, besitzt die Gestalt eines Leuchtturms.
»Wann geht die nächste Fähre?« fragt er.
»Stunde«, sagt Fox, biegt rechts ab in die Pfefferstraße, und Fokko erinnert sich bereits an der Ecke an das schmale Haus, an Foxens Mutter, die beinahe bei jedem Wetter wie eine Göttin der Leutseligkeit auf der Rückseite des Hauses in einem Korbsessel saß, vom überstehenden Dach und einem Sonnenschirm geschützt, Gemüse putzte, mit Handarbeit beschäftigt, oder mit nichts weiter, als sich die Hände zu reiben, in den kleinen Garten zu schauen und den Tulpen, Hortensien und einem vermickerten Apfelbaum beim Wachsen zuzusehen.
»Deine Mutter?«
»Verstorben.«
Er stellt den Koffer ab, öffnet die Öljacke, zieht den Reißverschluß der Brusttasche seines Overalls auf und kramt den Schlüssel hervor, als käme er eben von einer Passage zu den Shetlands zurück. Fokko erkennt das
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