Die Uhr der Skythen (German Edition)
entfachen.
Auf jeden Fall hatte das Schicksal gesprochen.
Es mögen sechs oder sieben Jahre her sein, daß er das letzte Mal dort oben gewesen ist, aber das Gedächtnis, das ihm in der Stadt verlorengegangen zu sein scheint, entfaltet sich unterwegs wie ein altes Getreidekorn in feuchtschwerer Muttererde. An den Rändern des Weges sind die Ausläufer seiner Erinnerungen protokolliert, bei Meppen verläßt die Bahn den Kanal, der sich ein Stück weiter zum wievielten Male mit der Ems vermählt, die Fokko für den Rest des Weges unsichtbar begleitet. Erst wenn er mit der Fähre aus dem kleinen Fjord bei Petkum bugsiert, wird er sie wiedersehen, da oben ist sie ein stattlicher Strom und eine lebendige Grenze seines Kindheitsreiches. Eine andere verläuft am Bahnhof von Leer, vor dem mittags der Bus steht, der die Gymnasiasten abholt, bei Leerort über die Ems nach Bingum, Jemgum und Ditzum fährt. Er könnte aus dem Zug aussteigen und den Bus nehmen, aber das war nie sein Weg, er will vom Wasser her zurückkehren und schon am Petkumer Ufer den Freund in die Arme schließen, der ihn über den Strom leiten wird wie Moses sein Volk durch das Rote Meer.
Es ist einer jener Tage, an denen es nicht richtig hell wird. Die Bahn folgt in ehrfürchtiger Distanz dem weiten Bogen, den die Ems von Nord nach West beschreibt, bevor sie sich zum Dollart öffnet. Das Land ist hier flach und moorbraun und glitschig wie eine Flunder, es geht kaum Wind, wie ihm scheint, in den Gräben spiegelt sich silbern der Himmel, der farblos das Land überspannt, auf dem die Schwermut wuchert wie Wollgras. Der Zug hält hier nirgends mehr, und als er an Oldersum vorbeirauscht, denkt Fokko, das letzte Stück, das müßte man mit dem Rad fahren oder zu Fuß gehen, aber da fliegt er schon an Petkum vorbei, für einen Augenblick ist die Welsche Haube der Kirche zwischen den Dächern zu sehen, der Zug, parallel zum Ems-Seitenkanal, verringert seine Geschwindigkeit, fährt in die Stadt ein, überquert den Binnenhafen und hält im Hauptbahnhof von Emden an.
Er schleppt seinen Koffer durch die Innenstadt, kauft sich beim Rathausplatz ein belegtes Brötchen und einen Becher Kaffee, stellt sich an die Reling am Delft und schaut sich das Feuerschiff und ein paar kleine Pötte an, die dort im eiskalten Wasser liegen. Es hat sich nichts verändert. Zeit spielt hier oben nicht die Rolle wie sonstwo. Die Rathausuhr zeigt halb zwölf. Es wäre kein Problem, den ganzen Weg rückwärts zu gehen, jetzt gleich. In der nächsten Stunde fährt gewiß ein Zug nach Rheine. Schon am frühen Nachmittag würde er den Koffer die Treppe hinaufschleppen, stiekum in seinem Zimmer abstellen, Eva würde sich nicht weiter wundern, wäre sowieso erst seit einer Stunde so richtig auf den Beinen, würde Tee machen und Kekse auspacken, er legte klassische Musik auf, zu der sie mit ihren Fingern einen zaghaften Takt schlüge, ehe sie ihre Hand auf seine legte: Fokko, laß uns in Ruhe reden, über alles.
Dies ist kein sentimentaler Ausflug in die Vergangenheit, es ist ein regelrechter Abschied. Er wird nicht zurückkehren, hat Eva keine Adresse hinterlassen und wird sie schriftlich als Nachmieterin vorschlagen. Es ist ein regelrechter Neuanfang. Dort, von wo er herkommt, von wo er nie hätte aufbrechen sollen. Sein Vater kommt ihm in den Sinn, er fühlt sicher, daß der noch lebt, fragt sich, ob er ihn nicht irgend gerufen hat, weil er Hilfe braucht, es mit ihm zu Ende geht oder sonstwas. Beide hätten sie in den Jahren ein Telefon benutzen oder eine Postkarte schicken können, aber sie sind auseinandergegangen wie zwei Kamele an einer Oase.
An der Sparkasse hält der Bus, der nach Petkum geht und weiter nach Leer. So hätte er auch dort, am Leerer Bahnhof, einsteigen und am rechten Emsufer hochfahren können, aber das hat er noch nie gemacht. Der Bus verläßt langsam die Stadt. Erst jenseits des Binnenhafens fällt Fokko auf, daß hier oben kaum Schnee liegt, die Emswiesen sind ein wenig überzuckert, an den Rändern mancher Dächer halten sich krustige Reste, aber der bleigraue Himmel über dem Fluß sieht eher nach Regen aus.
In Petkum ist alles, als wäre er just auf dem Heimweg von der Berufsschule. Er könnte an Evas Tresen stehen und den Plan blind auf einen Bierdeckel kritzeln, bei der Bäckerei um die Ecke, er hört schon das Gekreisch der Kreissäge aus der Tischlerei, geht zickezacke um die Kirche und die Straße zum Anleger runter, da liegt tatsächlich der selbe alte
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