Die Uhr der Skythen (German Edition)
Mauern ringsum, monochromen Häusern, die fast fensterlos irrsinnig in einen Himmel hinauswachsen, aus dessen Horizont ein kolossaler Wolkenberg emporquillt. Über der Stadt ziehen still vier rote futuristische Zeppeline ihre Bahnen, und im Mittelgrund schwebt haushoch über der dürren Ebene ein hölzernes Ruderboot ohne Riemen, in dessen Heck eine aufgeschossene, hagere Gestalt in einem schwarzen Frack steht und die Pinne hält.
»Wer ist das?«
Fox kaut an seinem Brot, als gelänge ihm das nur unter höchster Konzentration, schaut kaum auf und antwortet mit nichts als einem knappen Achselzucken.
»Der Gevatter vielleicht?«
Es dauert eine Weile, ehe die letzten Krümel verschluckt, die Lippen abgewischt sind, ehe er das Messer auf dem Brett zurechtgelegt und die Butterdose geschlossen hat.
»Kann sein«, sagt er dann.
Fokko erinnert sich der langen Diskussionen über die Interpretation von Kunst, die er als Pennäler mit ihm hatte, später wiederkehrend und apodiktischer mit Schwammheimer, der mit oder ohne die Emphase des Genevers behauptet, Kunst sei immer und in jedem Fall privat, wörtlich also der Herrschaft beraubt, und das gelte sowohl für ihre Entstehung als auch für ihre Rezeption.
»Fox, deine Bilder…«
»Was ist damit?«
»Sie gefallen mir.«
»Mir auch.«
Er schenkt ihm einen Blick, in dem alles Mögliche stecken mag, namentlich aber so etwas Überkommenes wie Herzenswärme.
»Hast du mal an eine Ausstellung gedacht?« fragt Fokko.
»Jau«, sagt Fox und schüttelt den Kopf. »Aber wenn die Leute meine Bilder sehen, halten sie mich für bekloppt und nehmen die Fähre nicht mehr.«
»Nicht hier, nicht in Emden. London, New York.«
Er lächelt und schaut, als wollte jemand die Passage über die Ems mit einer Kreditkarte zahlen.
»Du brauchst einen Agenten.«
»Mir fehlt nix«, sagt er, erhebt sich und kramt sein Mittagessen weg.
»Wolltest du nie mal von zu Hause fort?«
»Bin ich doch.«
»Wohin?«
»Nach Petkum. Jeden Tag.«
»Und weiter?«
»Nee. Wozu?«
Fokko steht vor dem Bild des Luftschiffers, der einen trocken liegenden Hades überfliegt, die sinistre Wüste, die das Fegefeuer hinterlassen hat oder die Äonen durchzieht auf dem Weg zum Jüngsten Tag.
»Ein Gemälde«, sagt er, »besitzt generell ein sehr eigenes Verhältnis zur Zeit.«
»Wieso?«
»Es hält das, was es abbildet, an.«
»Gewissermaßen.« Fox wischt die Tischplatte mit einem Lappen ab.
Fokko wird es ihm doch sagen. Nicht jetzt, da er schon auf die Küchenuhr schaut, einen Apfel aus der Schale nimmt, ihn am Ärmel seines Fischerpullovers blankreibt und in der Hosentasche verschwinden läßt wie ein Tennisspieler einen Ball. Niemandem wird er was sagen, aber ihm schon, später. Wenn jemand auf einen Gedanken kommt, wie man etwas Gutes tut, falls man die Zeit anhält, dann Fox.
»Ich muß los«, sagt er, sucht einen Schlüssel von einem Haken und gibt ihn Fokko. »Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Oben ist reichlich Platz. Bin gegen halb acht wieder da.«
»Wann malst du eigentlich?«
»Tagsüber im Kopf«, sagt er, geht in den Flur und zieht sich die Öljacke an. »Nachts auf der Leinwand.«
Mit der Klinke in der Hand steht er da und schaut Fokko an.
»Haste Arbeit?«
»Nein. Aber fürs erste ausreichend Geld.«
»Geld ist keine Arbeit.«
»Ich finde schon was.«
»Sicher«, sagt Fox, öffnet die Tür und macht einen Schritt auf die Pfefferstraße. Feiner Regen fällt schräg zwischen die Häuser, lackiert die Klinker und macht sich in den Ecken über die kümmerlichen Schneereste her.
»Kennst du eine Merreth?« fragt Fokko.
Fox schüttelt den Kopf.
»Merreth Winterboer…«
»Aus Ditzum ist die nicht.«
»Aus Jemgum.«
»Das ist groß.« Er schiebt sich die Kapuze über den Kopf, hebt den Arm zum Gruß und stakst davon.
Mit dem Tee geht er auf die Terrasse und dreht sich eine Zigarette. Die Topographie des kleinen Gartens ist ihm absolut vertraut, aber es fällt ihm schwer, was er sieht, gegenüber dem zu begreifen, was er erinnert. Es ist wie ein Vexierbild, eine Mehrdeutigkeit zwischen Gegenwart und der Vergangenheit, die ihm in einer Schärfe eingeschrieben ist, als wäre der Siebzehnjährige eben aus dem Urlaub in Schottland zurückgekehrt, den Kopf voller Begegnungen, im Rucksack ein Dutzend Schwarzweißfilme, er sieht sich nach drei Wochen wie beiläufig aus der Küchentür treten, Foxens Mutter in ihrem unvermeidlichen Kittel im Korbsessel unter dem Sonnenschirm
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