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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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immer wieder Nashörner auftauchen, animalische Fabelwesen und einsame Menschen, die augenscheinlich in groteske Geschichten verstrickt sind, die sich hier oben versteckt halten wie in einem verstaubten Märchenbuch.
    Hinter dem Treppenaufgang steht an einer der Längsseiten unter der Schräge ein Bett mit drei Matratzen, darüber steckt ein altes Ausstellfenster zwischen den Dachpfannen, innen von Spinnweben bewachsen, außen tanzen im grauen Licht Regentropfen auf der Scheibe.
    »Hier werde ich gewiß nicht bleiben«, sagt er und stellt den Koffer neben das Bett.

Kapitel 9
     
    Bei jedem Wetter hat er diesen Weg hinter dem Deich genommen, die letzten anderthalb Kilometer ans Ende der Welt, meist mit dem Rad gegen den Wind, selten wie jetzt zu Fuß und ohne feste Absichten. Das erste Mal allein in die andere Richtung, um die Tante zu besuchen, die natürlich Bescheid wußte und ihm ausgangs von Ditzum entgegenkam, als wäre es Zufall. Damals war er fünf Jahre alt, seine Welt war nichts als dieser verwunschene Garten, der sich vom Schlick des Dollart bis zum Ditzumer Hafen bemaß. Und der Weg auf dem Gepäckträger mit der Mutter eines Tages über den Fluß und in die Stadt, in der es bunt war und laut, ein Schaufenster neben dem anderen Dinge versprach, die es nicht geben konnte, die prächtigen Häuser und Straßen, auf denen fremde Menschen flanierten oder sich in den wunderlichsten Fahrzeugen bewegten, kam ihm am nächsten Tag vor wie ein geträumter Besuch in der Königsstadt.
    Der Regen ist überall, dringt bitterkalt und von einem sprunghaften Wind getrieben unter die Haut, imprägniert die Welt bis zum letzten verwelkten Grashalm am Fuße eines dieser schiefgewachsenen Zaunpfähle, fegt über die Kuppe des Deiches und gibt dem Weg einen lakritzenen Glanz. Die Felder sind trübe Aquarelle, die Bäume filigrane Schattenrisse, und das Schöpfwerk wirkt wie ein aufgegebener Außenposten. Ein Drittel des Weges liegt hier hinter ihm, das hat er schon mit halbwüchsigen Schritten berechnet, die beiden anderen Drittel führen schnurgerade unter dem Deich und an den Kuhwiesen entlang auf das Dorf zu, in dem er großgeworden ist.
    Zunächst aber steigt er auf die Krone, stemmt sich dem Wind entgegen, zieht die Kapuze über den Kopf, geht oberhalb der Häuser und am Sperrwerk vorüber bis zu seinem alten Platz, wo der Deich einen Knick macht und die Ems zum Dollart wird. Die Kräne drüben im Emdener Hafen sind nur als Bleistiftskizze auf grauem Karton zu erkennen, der Regen schraffiert das Wasser des Flusses, der sich seit mehr als hunderttausend Jahren in dieser Bucht verliert, ehe er als Strom Delfzijl passiert und sich Richtung Borkum in der Nordsee auflöst. Ein kleiner Trupp Austernfischer stakst an der Wasserlinie entlang wie rotäugige Ordensbrüder, die das Watt mit ihren orangenen Schnäbeln vermessen. Durch den Dunst blitzt die Kennung des Leuchtfeuers am Außenhafen auf, und südwärts verläuft der Deich ins Unendliche. Das Land ist von einer erhabenen Traurigkeit. Die Zeit steht hier wirklich still, aber irgendwann wird es Frühling werden.
    Er versucht, sich Merreth vorzustellen, zunächst die bunten, warmen Kleider, die Locken ihres fuchsroten Haars, die Sommersprossen und den merkwürdig vertrauten Duft nach einem Gewürz, das er nicht benennen kann. Ihre Schönheit bildet sich in seinem inneren Auge nicht ab, allenfalls eine Ahnung ihrer Bewegungen, der Schwebezustand des aus der Zeit gefallenen Schutzengels, die Balance, die sie beide für den Augenblick des Erwachens innehatten, zuletzt die zugeneigte Haltung ihres Kopfes, als sie schon in der Bahn saß und eine Notiz in ihren Kalender setzte, von der er für sein Leben gern wüßte.
    Äußerlichkeiten kann er aufzählen: die schweren Wanderstiefel, den Armeerucksack und das Bild von einem Mantel, der am Abteilfenster hängt wie ein magisches Gewand, unter dem man unsichtbar wird, fliegen kann oder nicht altert. Den Silberring erinnert er, den sie im Ohr trägt, von dessen Bedeutung er wissen möchte, aber seine Vorstellungskraft reicht nicht weit. Er fühlt zwar die Wärme ihres Blicks, dazu das Lächeln, das etwas in ihm angerührt hat, was seit einer Ewigkeit verborgen war, verschüttet oder vergessen, als er jedoch ihr Gesicht auf der Folie der grauen Regenlandschaft zu erkennen sucht, erscheint ihm Eva mit einem spöttischen Zug um die Lippen und dem angriffslustigen Blick, der wie ein Formatierungsbefehl auf der Stelle jegliche Imagination

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