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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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sitzen, mit dem Schälmesser eine Apfelsinenschale in hunderte geometrischer Stückchen zerschneiden, Tag Fokko, nimm dir ’nen Tee, setz’ dich zu mir und erzähl’ mir, hast du die Königin gesehen?
    Das alles ist geschehen und für den Rest aller Zeit wahr.
    Fokko steckt die Zigarette an und stellt sich unter das Dach. Der Regen fällt glitzernd in die Sträucher, auf den Rasen und versiegelt die Mauer zum Nachbarn. Die rückwärtige Seite des Grundstücks wird durch einen kindshohen Zaun begrenzt, dahinter sieht man den Deich, rechter Hand die ersten Häuser und dahinter den mächtigen Giebel der Werft mit dem Schriftzug: H.Bültjer & Co. – Bootswerft . Für einige Zeit hatten sie es sich zur Gewohnheit gemacht, die Pforte am Ende des Gartens nur springend zu überwinden, mit einem Anlauf von der Terrasse, einen Arm auf den Pfeiler und mit einer Flanke auf den Weg unter dem Deich.
    Wie lange eigentlich?
    Irgendwann war es fürchterlich albern, sie waren groß genug, mit einem seitlichen Schritt über die Pforte zu bugsieren ohne sie zu berühren, und spätestens, als man den Sarg für Foxens Vater von hinten ins Haus trug, als wäre er etwas, auf das die Nachbarn neidisch sein könnten, war das Spiel vorüber.
    Unter dem Hortensienstrauch liegt ein Plastikball, als würde Fox noch heute des Abends, wenn er dutzendfach über die Ems und zurück geschippert ist, für eine halbe Stunde die Pille bewegen, immer mit sich selbst im Spiel gegen die Mauer, auf die er mit Kreide ein Fußballtor gezeichnet hatte, das der Regen längst abgewaschen hat.
    Er wird sich unter Foxens Dach einrichten, wird wenigstens die erste Nacht bleiben, ein paar Tage vielleicht, aber er ist nicht zu Besuch hier. Den Rest der Zigarette drückt er tief in die Erde unter dem Strauch.
    Die Treppe ist sehr eng. In seiner Erinnerung ist das Haus größer, der Garten, der Fluß, die Heimat ein unermessliches Land, obwohl es von Ems und Dollart begrenzt ist. Der Spitzboden erstreckt sich über die Länge des Hauses und besitzt in den Giebeln jeweils ein Fenster. Das eine geht nach Süden auf die Pfefferstraße, auf die regennassen Dächer und den Kirchturm hinaus, das andere gibt den Blick frei in den Spielzeuggarten, durch die diesige Luft nordwärts, wo er den Fluß weiß: hinter dem Deich, jenseits der Wimpel an den Mastspitzen der Fischkutter. Eine Möwe läßt sich auf einem Schornstein nieder, zieht mit einer langsamen, leicht ruckenden Bewegung den Kopf ein Stück in das Gefieder zurück, als würde sie von Hebeln und Elektromotoren gesteuert wie das Modell eines Vogels. In festen zeitlichen Intervallen dreht sich nun der Möwenkopf um je etwa dreißig Grad nach rechts, bis er mit einem leichten Pendeln an den letztmöglichen Punkt der Drehung kommt. Das schwarze Auge tastet ein bestimmtes Segment der Möwenwelt ab, dann löst ein unsichtbarer Impuls die Gegenbewegung aus, der Kopf dreht sich nach links, das Auge folgt reglos der mechanischen Bewegung, und als der Schnabel die Linie des Vogelkörpers gefunden hat und wie eine Kompaßnadel den Kartenkurs anzeigt, zieht sich der Kopf noch ein winziges Stück weiter in das Federkleid zurück und hat augenfällig seine Ruheposition erreicht.
    »Stand by«, sagt Fokko leise.
    Wie soll er sich einer vollkommen fremden Frau nähern, von der er lediglich weiß, wie sie heißt und in welchem Ort sie lebt. Für eine halbe Sekunde hat er den Perlenglanz in ihren Augen gesehen, das Blütenlächeln, ehe sie gestolpert ist und er sie aufgefangen hat. Nur mit Mühe wird sie sich an die kleine Szene erinnern, an ihn selbst wohl kaum. Und er? Er kennt sie überhaupt nicht. Ist es Wahnsinn, Schicksal oder was sonst, das ihn einen Tag später mit Koffer und Rucksack hierher hat hochfahren lassen? Ist er vor Eva und ihren undurchsichtigen Begehrlichkeiten geflohen, vor Schwammheimers Ideen, wie man mit der Zauberuhr gute Taten tut? Ist er wegen Merreth Winterboer hier oder weil er zurück will: nach Pogum, in die Heimat, in die Kindheit?
    »Ich werde erst nach Pogum gehen«, sagt er, wischt seinen Atem von der Fensterscheibe und dreht sich um. Der Boden ist vollgestellt mit Gemälden. Je nach ihrer Größe stehen sie gestaffelt an die Schrägen gestellt, sind in Packpapier oder Folie gehüllt oder lehnen ungeschützt gegeneinander. Das schwache Licht der Lampe läßt die Motive nur erahnen, Fokko erkennt stellenweise die düstere Architektur fensterloser, aufschießender Häuser, skurille Szenen, in denen

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