Die Uhr der Skythen (German Edition)
löscht.
Auf der Deichkrone geht er zurück. Wind und Regen stehen ihm im Rücken, eine Möwe klebt über ihm in der Luft, als wäre die Zeit stehengeblieben, und ein Stück emsaufwärts ist im Dunst die Fähre zu erkennen. Hinter dem Sperrwerk verläßt er den Deich.
Der Fleck ist das tiefste Mittelalter. Die Häuser ducken sich unter die schwarzen Bäume, als wären sie von einem Riesen in den Schlick gedrückt worden. Keine Menschenseele ist zu sehen, selbst die Hunde haben sich verkrochen, nur eine Krähe hockt bedrohlich still und aufmerksam auf einer Mauer. Der Kirchturm ist ein schlichtes, eckiges Gemäuer, das trutzig in die Höhe gewachsen ist. Auf seinem First dreht sich ein Schwan, der bei gutem Wetter golden glänzt. Er nimmt den Weg über den Kirchhof. Der feine Regen poliert die Grabsteine, schreibt die Inschriften neu, die der Seelen gedenken, von denen viele schon gegangen waren, bevor Fokko diese kleine Welt betreten hatte. In der Kindheit war ihm die stumme Gesellschaft der Toten unheimlich, und er durchquerte sie nur an der Hand eines Erwachsenen. Wenn er allein unterwegs war, rannte er auf jeden Fall außen herum, auch bei solchem Wetter durch den Matsch und die Pfützen. Als er jedoch lesen gelernt hatte, war alles anders. Er begann die friesischen Namen und die Daten zu verstehen, und es war plötzlich, als ginge er inmitten seiner großen Familie spazieren. Tatsächlich war er, wie er damals begriff, mit vielen Verstorbenen verwandt, und jetzt erkennt er sie wieder, im Vorübergehen, als hätte er sie gestern zu Grabe getragen, als hätten sie nicht all die Jahre hier gelegen, die ganze unglaubliche Zeit, in der er sich in der unendlich entfernten Stadt zehntausendfach auf den Weg gemacht hat, zehntausendfach zurückgekehrt ist.
Vor einem schwarzen Stein ist er stehengeblieben. Enno und Katharina Oltmanns liegen hier seit mehr als dreißig Jahren in der moorigen Erde begraben, Onkel und Tante an ein und demselben Tag verstorben, unbegreiflicherweise nicht durch einen Flugzeugabsturz oder dergleichen, sondern quasi Hand in Hand, Atemzug für Atemzug punktgenau und gemeinschaftlich an ein natürliches Ende gekommen. Der halbwüchsige Fokko hatte es mit Schrecken gehört, hatte an einen Teufelspakt gedacht, an ein infernalisches Geschäft oder ein gnadenloses Gottesurteil, aber der Pfarrer hatte genau an dieser Stelle gestanden, der Wind hatte wie immer von Nordwest und wie immer vergeblich an seinem Talar gezerrt, ihm die blonden Haare in das fröhliche Gesicht gefegt, als er beinahe ausgelassen davon sprach, die Eheleute Oltmanns hätten ganz offensichtlich sehr gute Beziehungen zu ihrem Schöpfer gepflegt, sie seien, mit den Gnadenmitteln der Kirche gesegnet, in himmlischer Eintracht in die ewige Seligkeit übergegangen. Beim Kaffee schoben sich die jungen Leute in ratloser Trauer den trockenen Beerdigungskuchen zwischen die Zähne, die Alten indes, die doch dem grauenhaften Gevatter Jahrzehnte näher waren, sprachen zuversichtlich von einem glücklichen Geschenk, von göttlicher Fügung oder gar dem Höhepunkt der Liebe.
Was wäre, überlegt Fokko, wenn er damals die Zauberuhr besessen hätte?
Alles könnte für immer sein, aber nichts würde er aufhalten. Wenn er gewollt hätte, läge seine Mutter noch heute im Sterben, in diesem Bett, in diesem Zimmer, in der Stadt, in die sie auch zum letzten Mal mit dem Fahrrad gefahren war. Er hätte ihr Leben gerettet, ohne es ihr zurückzugeben. Und wenn dann heute, beinahe zwanzig Jahre später, die Uhr abgelaufen wäre, oder er es aus Verzweiflung oder Mitgefühl endlich fertigbrächte, sie zu schließen, wäre doch alles so gekommen, wie es gekommen ist, und am Ende, nachdem er nun mit einem bangen Kuß auf ihre kalte Stirn einen Abschied gefunden hatte, war er mit ihrem Fahrrad nach Hause gefahren, weil er es schlecht am Krankenhaus hatte stehen lassen können.
Die Zeit erledigt sowieso das ihrige. Die Uhr ist ein Unheil und liegt in seinem Rucksack. Am besten nähme er jetzt eine der kleinen Gartenschaufeln, die hier und da hinter den Grabsteinen stecken, grübe eine kleines, tiefes Loch in die letzte Ruhestätte der Eheleute Oltmanns und versenkte das Werk des Teufels bis zum Jüngsten Tage in der geweihten Erde.
Er richtet sich auf und schaut sich um. Kopfweiden stehen in der Nähe wie verkrüppelte Totenwächter. Der Regen beruhigt sich, der Wind verläuft sich hinter den Deichen wie ein Raubtier, das die Witterung der Beute verloren hat,
Weitere Kostenlose Bücher