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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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und jenseits des klobigen Kirchturms hellt der Himmel auf. Wie konnte er nur so viele Jahre fortbleiben?
    Das Haus am Kirchring hat sich in den wuchernden Vorgarten zurückgezogen, hinter die Hecke, die sich in alle Himmelsrichtungen ausgewachsen hat, den Holzzaun verschlungen, erdrückt und wohl auch schon verdaut. Nur der Pforte hat sich offenbar jemand erbarmt und sie freigeschnitten. Eine schmale Spur über die Steinplatten ist noch nicht vom Moos gefressen, das Efeu ist längst über die eingeknickte Dachrinne auf die Pfannen gekrochen, um sich demnächst auf dem First mit sich selbst zu vereinigen und durch den Schornstein endgültig in das Innere des Hauses zu gelangen. Die Fenster sind blind und zugewachsen wie die Augen eines uralten Menschen, von der Tür blättert der Lack, und auf dem Stück Treibholz, das neben die blanke Klinke geschraubt ist, fehlt die Hälfte der Muscheln, die Fokko dort vor langer Zeit aufgeklebt hat. Aber der Name ist noch zu lesen: van Steen.
    Er schließt die Augen.
    Sofort beginnt in seinem Kopf ein altvertrauter Film zu laufen, der ihn in das Zeitalter der Kindheit zurückstürzen läßt, aber jedesmal gibt es ein modifiziertes Drehbuch, das stets aus dem selben, kunterbunten Reigen alter Bilder zusammengesetzt ist, die sich aufs Neue verknüpfen. Es ist nichts anderes, als zum zehntausendsten Male in einem Fotoalbum zu blättern, in dem seine frühen Jahre lückenlos dokumentiert sind, jedes einzelne Bild lebt in ihm, setzt eine Geschichte in Gang, die bruchlos in die nächste fließt: ohne irgendeine Rücksicht auf die lächerlichen Gesetze von Zeit und Logik. Gleichwohl ist alles geschehen und wahr.
    So beginnt es dieses Mal mit den Zigarrenkisten, in denen er die Muscheln aufbewahrte, die er gesammelt hatte, als er in den Schulferien eine paradiesische Woche lang jeden Tag mit der ersten Fähre nach Borkum, mit der letzten zurückgefahren war, weil der Vater in einem privaten Ferienhaus laufende Meter Einbaumöbel installierte. Diese Zeit gehört ihm vollkommen allein, sie ist aufbewahrt in wundervoll farbigen Bildern: das Meer ein lebendiges Wesen, der Strand eine unerschöpfliche Schatztruhe, jeder Weg ein Geheimnis.
    So ein Schild braucht niemand, sagte der Vater, jeder weiß, wer hier wohnt. Sie besaßen auch keine Klingel, denn es galt der alte Schnack, wer sein Haus abschließt, beleidigt die Nachbarn. Dennoch stellte er dem Jungen die Kaffeedose mit Knochenleim hin und ließ ihn allein. Fokko klebt der säuerliche Duft des Leims noch in der Nase.
    Er öffnet die Augen. Mit den Fingern fährt er über seinen Namen. Das hat er vermutlich das letzte Mal getan, als er zwei Tagen später geprüft hat, ob der Leim die Muscheln auf dem Brett hielt, das Vater dann vorsichtig auf die Haustür geschraubt hatte. Es ist alles wie es war, dennoch bewegt sich jedes Ding unaufhaltsam auf sein Ende zu. Es wird einen Tag geben, an dem nichts mehr zu finden sein wird von diesen Muscheln, nicht eine Scherbe, kein Atom.
    In der Laibung des Küchenfensters findet sich der Hausschlüssel, rostig wie der Nagel, an dem er hängt. Er probiert ihn aus. Das Schloß hakt und knackt, aber es öffnet sich ohne Probleme und mit ihm die Tür. Ein schwerer Geruch tritt ins Freie, Essendünste vielleicht und kalter Zigarettenrauch, eine moorige Feuchtigkeit und sowas wie eine allgemeine Aura von Vergänglichkeit. Da er eben den ersten Schritt in das Haus machen will, hält ihn eine Stimme zurück.
    »Fokko?«
    Er dreht sich um. Eine alte Frau kommt auf ihn zu. Es ist die Bäuerin von nebenan, Frau Freesemann, ein augenscheinlich zeitloses Wesen, denn wahrscheinlich hätte er sie allein an ihrer näselnden Stimme erkannt, auf jeden Fall aber an den mittelalterlichen Kleidern, an der millionenfach als Handtuch, Wischlappen und Behältnis genutzten Schürze, an dem fadenscheinigen Kopftuch, unter dem sich ihre weißen Haaren hervordrehen. Vor allem aber, da er es ruhig betrachtet, erkennt er sie an ihrem Gesicht, auf dem seit achtzig oder wieviel Jahren der Ausdruck einer unverwüstlichen Treuherzigkeit eingemeißelt ist.
    »Fokko van Steen?«
    »Ja.«
    »Du warst lange nicht da.«
    »Stimmt.«
    »Hast dich nicht blicken lassen.«
    Es kommt ihm vor, als müßte er der alten Nachbarin Rechenschaft geben über verlorene Zeit: wie man am Abend eines Tages die Kasse auszählt auf Heller und Pfennig. Die alte Frau erwartet erkennbar eine Antwort, schaut ihn an, als hätte er seit zehn Jahren keine Miete

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