Die Uhr der Skythen (German Edition)
Küchentür hinter sich zu, als triebe ihn eine weltbewegende Wut.
Wie durch ein kleines Museum seiner eigenen Geschichte flaniert Fokko durch das Haus. Es ist alles an seinem Platz, in der Küche sowieso, in der Kammer das schwere, eicherne Ehebett, dem man das Gewicht der Jahre des Verschenkens und des Hadern ansieht, in der Besten Stube der Altar mit dem steinalten Fernseher, dem schwarzweißen Tabernakel eines mystischen Imperiums, in dem allabendlich die Liturgie der Unfrohen Botschaft zu erleben war. Das Fischereizeugs, die Gartengeräte und das Werkzeug finden sich auf der Tenne, wo sie hingehören. Fokko könnte geradewegs die Hecke schneiden, die Schlösser ölen oder ein paar Reusen an den Fluss tragen, könnte in die Gummistiefel seines Vaters schlüpfen, das Wasser der Ems würde bald den Staub und die Spinnweben davonspülen.
Unter der Treppe ist Brennholz gestapelt. In den hintersten Ecken werden sich noch ein paar Scheite finden lassen, die er selbst gesägt und gespalten hat, feinste Buche, die mal mit einem Hänger irgendwoher von der Weser gekommen war, Freesemanns krüppelige Kirsche und das, was der Vater vom Treibholz übrigließ, aus dem er Amulette fabrizierte, groteske Fetische, mit Muscheln, Tampenfetzen und blankpolierten Glasscherben besetzt, richtige Kunstwerke aus Müll, von denen er einige sogar verkauft hat.
Allein der Blick die Treppe hinauf löst etwas in ihm aus, wie ein Apparat, der durch einen komplizierten Mechanismus in Gang gesetzt wird, durch eine Kopplung der Bewegungen auf den Stufen mit dem modrigen Geruch nach altem Heu und dem dünnen grauen Licht, das kaum durch das vom Efeu überwucherte Giebelfenster dringt.
Er geht nach oben.
Die Erinnerungen sind komplett gegenwärtig, alles ist in ihm minutiös aufgeschrieben und verfügbar wie in einer pedantischen Buchführung. Aber das ist es nicht. Es ist ein Gefühl, ein ganz konkretes. Vor der Kammertür hält er inne, berührt die Klinke mit einem Finger und spürt dem nach, was in seinem Inneren derart rückhaltlos in Gang gekommen ist, als würde es mit Strom funktionieren. Es ist nicht zu beschreiben, aber er kennt es genau, es ist eine spezifische Mischung für genau diesen Ort, in genau diesen Zusammenhängen, es hat ebenso mit einer bösen Furcht zu tun wie mit Einsamkeit und einer herzensschweren Wehmut, dorthin zurückzufinden, von wo er gekommen ist.
Als er die Tür öffnet und einen flüchtigen Blick in seine aufgeräumte Vergangenheit wirft, die er eine Sekunde zuvor exakt so hätte aufzeichnen können, wird ihm schlecht. Hastig, als hätte er eine grauselige Entdeckung gemacht, schließt er die Tür und geht nach unten. Der Vater scheint schon seit längerer Zeit nicht mehr hier zu leben. Niemand. Nur Frau Freesemann kommt gelegentlich und schaut, daß keine Fensterscheibe zersprungen, kein Wasserrohr geplatzt ist. Dennoch werden hier alle Geschichte akribisch aufbewahrt, und wenn er in fünfzig Jahren wiederkommt, wird der Greis in der Bodenkammer die Kindheit vorfinden, als käme er just vom Angeln beim Düker.
Die Tür am Fuß der Treppe führt in den Schuppen. Vaters Arbeitsklamotten hängen am Haken, drüber der schwarze Hut, drunter stehen die Holzschuhe. Mutters Fahrrad lehnt am steinernen Spülbecken und funktioniert garantiert wie ein geölter Blitz. Die Schubkarre ist vor der langen Wand aufgestellt, daneben der Schlickschlitten, mit dem schon der Großvater ins Watt gezogen war, um seine Reusen zu kontrollieren, bisweilen der Ebbe hinterher bis ans Groote Gat, auf dem Rückweg mit langen, gleichmäßigen Bewegungen vor der Flut so knapp zurück, daß sie ihm manches Mal die Sohle küßte.
Er geht in die Küche zurück und schaut aus der Tür. Der Wind stöbert nervös durch das schwarze, verwilderte Gestrüpp, unter dem Fokko das Bild des alten Gartens erkennt, die Beete, die schmalen Wege, die zinnoberroten Blüten im Zaun, er hört die Möwen in der Frühe ihren unverschämten Lärm veranstalten, sieht die Mutter die Äpfel aufsammeln, die des Nachts vom Baum gefallen sind, riecht den süßsauren Duft von frisch aufgekochtem Apfelmus und schließt die Tür.
Auf der Eckbank steht sein Rucksack.
Das ist wie mit dem Treibgut, mein Sohn.
Er holt die Uhr aus der Seitentasche und öffnet sie. Es gibt keine Bewegung, die innehält, allenfalls mag er sich einbilden, daß eine Art atmosphärisches Rauschen verschwindet, so etwas wie ein Betriebsgeräusch der Natur, über das sich jetzt sein
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