Die Unbekannten: Roman (German Edition)
sich breitbeinig hin, um sich gegen den Rückstoß abzustemmen, richtete die Schrotflinte mit dem Pistolengriff auf die Tür des Wandschranks, drückte ab und feuerte dann gleich noch einmal. In dem kleinen Zimmer prallte der Knall mit einem Rückstoß von den Wänden ab, den er beinah fühlen konnte. Er gab auch zwei Schüsse auf das Badezimmer ab.
Das Schrot stanzte Löcher in die beiden billigen Holztüren mit Hohlkern und ihm blieb immer noch genug Geschwindigkeit, um jeden, der dahinter lauern mochte, zu zerreißen. Das Ausbleiben von Schreien wies darauf hin, dass Henry Munition vergeudet hatte.
Er pumpte die letzte Patrone in die Patronenkammer, wühlte in seinen Taschen nach Ersatzpatronen und lud das Magazin nach.
Seine Hände zitterten, in seiner Kehle brannte Magensäure und seine Eingeweide rumorten, als bekäme er Durchfall, doch er übergab sich nicht und machte sich auch nicht in die Hose.
In einer Situation, in der er sich derartig unter Druck gesetzt fühlte, weil alles auf dem Spiel stand, nicht die Kontrolle über seine Körperfunktionen zu verlieren, erschien ihm wie ein Triumph. Henry schöpfte echte Zuversicht aus der Tatsache, dass seine Unterwäsche trocken blieb.
Arglose Menschen zu töten war wesentlich einfacher, als sein Leben gegen einen bewaffneten Feind zu verteidigen.
Das war eine Wahrheit, die sie in Harvard nicht lehrten. Oder zumindest in keinem der Kurse, die Henry belegt hatte.
Vor einem Mord war die Vorfreude auf eine Gewalttat lustvoll, aber die Erwartung, eine Kugel in den eigenen Kopf gejagt zu bekommen, war überhaupt nicht berauschend, ganz gleich, was Psychologiedozenten dazu sagten; sie behaupteten nämlich, der Tod übe einen unterbewussten Reiz aus, der dem Reiz von Sex ähnele. Eine gut aussehende Frau, die in einem Kartoffelkeller angekettet war, übte einen unendlich größeren Reiz auf ihn aus, als sich an jemanden heranzuschleichen, der sich vielleicht gleichzeitig an einen selbst anschlich und einem das Gehirn rauspusten wollte.
Er öffnete die durchlöcherte Schranktür und fand keinen Lebenden und auch keinen Toten vor. Im Badezimmer hatte das Schrot den Spiegel zerschmettert.
Nachdem er das Haus durchsucht hatte, fühlte er sich besser, aber keineswegs sicher. Das Haus war keine Festung. Außerdem würde er früher oder später ohnehin rausgehen müssen.
15
Als er mit dem Gesicht am Küchenfenster im Dunkeln stand und nach Süden schaute, sah Grady Lichter in den Garagenfenstern. Und das breite Rolltor war hochgezogen.
Einem Eindringling wäre es nicht schwergefallen, in die Garage hineinzukommen. Keines der beiden Fenster besaß einen funktionierenden Riegel. In einer ländlichen Gegend, in der die Kriminalitätsrate fast so niedrig war wie im Vatikan, hatte er nie die Notwendigkeit für eine sichere Garage gesehen.
Eine Minute lang hielt er Ausschau nach einer Silhouette von jemandem, die sich gegen das breite Rechteck aus Licht absetzte, doch dann kehrte er zu seinem Stuhl zurück und goss sich den ersten Becher Kaffee aus der Thermosflasche ein.
Merlin, der an der Glastür saß, gab einen leisen, fragenden Laut von sich.
»Ich weiß es nicht«, sagte Grady, »aber ich denke mir, vielleicht geht es darum, zu entscheiden, ob wir das Ganze beobachten. Wenn wir es beobachten, wird man von uns erwarten, dass wir zur Garage gehen, um nachzusehen, was dort los ist.«
Der Hund sagte nichts.
»Ich habe das Gefühl«, sagte Grady, »es ist besser, wenn es so aussieht, als seien wir ins Bett gegangen. Wenn keiner
glaubt, dass wir ihn beobachten, dann bekommen wir vielleicht etwas zu sehen.«
Da er mit Zimt gewürzt war, verströmte der schwarze Kaffee einen milden Duft. Er schmeckte so gut, wie er roch.
Wachsamkeit und geduldiges Warten waren Aufgaben, für die Grady das richtige Temperament und die erforderlichen Fähigkeiten besaß. Außerdem hatte er Jahre eingehender Erfahrung in diesen Dingen hinter sich.
Sein Freund Marcus Pipp hatte ihn Leguan genannt. Wie diese Echsen konnte er so lange regungslos dasitzen, dass sein Stillhalten zu einer Art Tarnung wurde. Man konnte ihn sehen und vergaß doch, dass er da war.
Marcus war schon seit zehn Jahren tot. Grady dachte immer noch mindestens jeden zweiten Tag an ihn.
Ein Senator der Vereinigten Staaten hatte Mrs. Pipps Jungen getötet. Grady hätte es kommen sehen und etwas unternehmen müssen, um Marcus’ Tod zu verhindern; daher trug er einen Teil der Schuld daran.
Manche Menschen hätten sich
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