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Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Titel: Die Unbekannten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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dieser Einschätzung nicht angeschlossen. Da er dabei gewesen war, als Marcus starb, kannte Grady die Wahrheit. Er würde weder der offiziellen Lüge beipflichten noch Ausreden für sich selbst finden.
    Seine Mutter sagte, die Lügen, die man sich selbst einredete, seien die schlimmsten von allen. Wenn man nicht jeder Wahrheit über die eigene Person ins Gesicht sehen konnte, würde man niemals wissen, wer man wirklich war. Und man konnte seine Sünden nicht abbüßen, wenn man sich die Notwendigkeit, Buße zu tun, nicht eingestand.
    Grady erkannte die Notwendigkeit, Buße zu leisten, das schon, und er erkannte auch, dass er lange würde leben müssen, um diese Aufgabe abzuschließen.
    Merlin war wieder aufgestanden und tappte durch das schwache Licht zu seinem Wassernapf, der breit und tief war. In der Stille der Küche klang er wie ein Clydesdale-Pferd, das aus einem Trog trinkt.
    Draußen im Garten schwächte jetzt nur noch der Mond die Dunkelheit ab. Die Lichter in der Garage waren wieder ausgegangen.
    Auf der Suche nach Zuwendung kam der Wolfshund zu Grady. Merlins Kopf war über dem Tisch und Grady rieb die Ohren des Hundes sanft zwischen seinen Daumen und Zeigefingern.
    Wenn die Aufgabe eines Menschen darin bestand, wachsam und geduldig zu warten, frustrierte der fest verankerte Körper den Geist, bis er sich losriss und die Segel setzte. Dann neigten die Gedanken dazu, durch einen Archipel von nicht miteinander verbundenen Themen zu steuern. Die Reise mochte den Eindruck erwecken, sie hätte kein Ziel, und doch konnte sie in einen Hafen führen, der eine nähere Erkundung lohnte.
    Grady driftete in eine lebhafte Erinnerung an die nachmittäglichen Wälder ab, in dem Moment, als Merlin zwischen zwei Bäumen auf die goldene Wiese hinaustrat. Jenseits des Waldes wirkte der Sonnenschein betörend, so sensationell wie eine kupferne Dämmerung und so funkelnd, als hätte sich aus einem magischeren Reich als diesem eine aufgeplusterte Wolke paillettenbesetzter Atmosphäre durch eine offene Tür gezwängt. Er hatte die
Wahrnehmung eines kupfernen Funkelns als ein kurzlebiges Phänomen abgetan, das von seinem Blickwinkel und dem Kontrast zwischen dem dämmerigen Wald und dem offenen Gelände herrührte. Und dann hatte das Erscheinen der weißen Tiere dazu geführt, dass er die Einzigartigkeit dieses Lichts vergessen hatte.
    Als er jetzt am Küchentisch saß, fühlte er ein Prickeln im Nacken, und die Erinnerung lief wie eine Endlosschleife immer wieder vor seinen Augen ab. Von Mal zu Mal hinterließ das Erlebnis einen nachhaltigeren Eindruck bei Grady. Er erinnerte sich nicht nur an das schillernde Leuchten, sondern er sah es so, wie er noch nie eine Erinnerung durchlebt hatte: dreidimensional, in naturgetreuen Farben und bis in alle Einzelheiten mit dem erlebten Vorfall identisch, jede Nuance klar herausgearbeitet und hypersensibel wahrgenommen.
    Er fühlte sich wieder auf den Wildpfad versetzt, in den bedeutungsschwangeren Augenblick hineingeworfen. Merlin lief auf die Wiese zu, anthrazit und grau, ein Schatten, der an nichts befestigt war, während Grady hinter ihm zögerte. Über ihren Köpfen: der Baldachin aus Ästen, die eher gefiedert als mit Nadeln behangen wirkten, ein dunkles Grün, still und duftend. Vor ihnen: die Stämme und Äste von Kiefern, die sich nahezu schwarz ausnahmen vor dem Hintergrund des glitzernden und funkelnden kupfernen Lichts, des unwiderstehlichen glänzenden Lichts, des bedeutsamen Lichts, des Lichts .
    Die Erinnerung ebbte ab, der vergangene Moment in den Wäldern entließ ihn in die Gegenwart in der Küche und er stellte fest, dass er am Tisch stand und den Stuhl
umgeworfen hatte, als er aufgesprungen war. Er hatte nicht nur eine Erinnerung erlebt, sondern noch etwas anderes, wofür er keinen Namen hatte, ein Wiedereintauchen in ein vergangenes Ereignis, das alle fünf Sinne vollständig gefangen genommen hatte.
    Und es war, als sei er am Nachmittag, als sich der Vorfall tatsächlich abgespielt hatte, blind für die Intensität des Lichts gewesen, als sei er nur in der Lage, die Tragweite des Moments zu ermessen, wenn er ihn in der Erinnerung noch einmal durchlebte, aus der Sicherheit, die ihm der zeitliche Abstand gab.
    Seine Kopfhaut prickelte, kalter Schweiß war in seinem Nacken ausgebrochen, und er hörte sein Herz heftig pochen.
    Gradys Augen waren ausreichend an die Dunkelheit gewöhnt. Daher konnte er sehen, dass Merlin wachsam dastand, nicht weit von ihm entfernt, und ihn

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