Die Unbekannten: Roman (German Edition)
Iren von der aufbrausenden Sorte, oder O’Malley? Sie gehen doch nicht auf einen alten Mann los, weil er eine unverschämte Frage stellt?«
»So alt sind Sie doch gar nicht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie unverschämt werden.«
»Nicht lügen – sind Sie ein degenerierter Spieler oder einfach nur ein verdammter Dummkopf ?«
Gene lachte leise. »Sie haben wirklich eine Art an sich, Ed. Ich bin ein verdammter Dummkopf, der nie mehr ein Casino von innen sehen will.«
»Ich vermute, ich glaube Ihnen. Mir ist noch kein O’Malley begegnet, der gelogen hätte.«
»Sind Ihnen denn schon viele O’Malleys begegnet?«
»Sie sind der Erste. O’Malley, wissen Sie, wer Sir Isaac Newton war?«
»Ein Wissenschaftler oder sonst jemand.«
»Er war jemand, und ein Wissenschaftler noch dazu. Jahrhundertelang hat die Newtonsche Physik der Naturwissenschaft das Handwerkszeug geliefert, das sie brauchte, um die moderne Welt aufzubauen. Newtons Theorien und Methoden funktionieren immer noch, aber wir wissen jetzt, dass viele von ihnen unvollständig oder sogar falsch sind.«
»Wie können sie funktionieren, wenn sie falsch sind?«
»Das hat mit reduktionistischer Beobachtung und der Macht der Annäherung in der Zuverlässigkeit von kurzfristigen Wirkungen zu tun.«
»Ja, natürlich«, sagte O’Malley und verdrehte die Augen.
»Einstein hat Newtons Illusion des absoluten Raums und der absoluten Zeit zerstört. Die Quantentheorie hat der Vorstellung von einem kontrollierbaren Messverfahren ein Ende bereitet.«
»Wie viele Biere haben Sie getrunken, Ed?«
»All das hat mit etwas Gutem zu tun, das Ihnen demnächst zustoßen wird, O’Malley. Kennen Sie Galileo?«
»Nicht persönlich.«
»Galileo war ebenfalls ein großartiger Naturwissenschaftler und eine seiner Theorien, die mit der Schwingung eines Pendels zu tun hat – dass seine Schwingungsdauer unabhängig von seiner Amplitude ist – wird mehr als dreihundert Jahre später immer noch an den meisten höheren Schulen im Physikunterricht gelehrt. Aber sie ist falsch.«
»Ich würde wetten, Sie wissen auch, was daran falsch ist«, sagte O’Malley, als ließe er einem sonderbaren Kauz seinen Willen.
»Jeder, der sich in den letzten dreißig Jahren mit Physik beschäftigt hat, weiß, dass sie falsch ist, aber sie wird trotzdem gelehrt. Galileo hat lineare Gleichungen benutzt. Aber Turbulenz ist systemimmanent, und daher ist eine nicht-lineare Annäherung erforderlich. Chaos, O’Malley. Selbst dem simplen System eines Pendels liegt Chaos zugrunde, Potenzial für komplexes und unerwartetes Verhalten. Und jetzt werde ich Ihnen etwas geben.«
»Was ich brauche, sind die Zauberworte, die Lianne dazu bringen, mir noch einmal zu verzeihen.«
»Das Leben kann manchmal hoffnungslos komplex, unvorhersehbar und chaotisch erscheinen. Dann offenbart
sich eine seltsame Ordnung. Sie erzählen Lianne, was Sie getan haben und was ich getan habe, damit sie weiß, dass es Ordnung im Chaos gibt. Aber vorher lösen Sie die hier ein und bringen das Geld zu ihr nach Hause.«
Aus einer Tasche seiner weißen Sportjacke zog Lamar siebzehn Jetons im Wert von siebzehntausend Dollar und legte sie auf den Tresen.
17
Das schneeweiße Paar glitt durch den mondkühlen Garten: deutlich sichtbar, aber nicht in Einzelheiten, katzenhaft, wolfsartig und doch weder Katzen noch Wölfen ähnelnd, vertraut und fremd zugleich, wie in einem Traum.
Als die Tiere einen Bogen in Richtung Haus schlugen und um die Nordecke der Veranda verschwanden, eilte Grady aus der Küche und nutzte zur Orientierung die LED-Anzeige der Backofenuhr und das Surren des Kühlschranks.
Da er im fensterlosen Flur blind war, tastete er sich an der linken Wand entlang, bis er eine Tür fand.
In seinem Arbeitszimmer versilberten zwei bleiche Rechtecke direkt gegenüber von ihm die Dunkelheit. Seine Vertrautheit mit der Anordnung des Mobiliars erlaubte es ihm, sich rasch an diese gardinenlosen Fenster zu begeben.
Auf halbem Weg schnappte er nach Luft, als plötzlich eine Gestalt vor einer der gerahmten Mondscheintafeln aufragte. Er begriff jedoch gleich darauf, dass es Merlin war, auf der Innenseite der Scheibe, mit den Pfoten auf der Fensterbank. Grady trat an das andere Fenster.
Die Nacht blieb für einen Moment so, wie sie jahrtausendelang gewesen war: voller Mythen, Mysterien und Bedrohungen, aber tatsächlich weniger gefährlich als der Tag, und sei es auch nur, weil jetzt mehr Menschen schliefen
als nach
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