Die Unbekannten: Roman (German Edition)
doch sein Becher war leer.
Merlin stand ganz still da, als dächte er über die Situation nach. Er war ein besonnener Hund, der stets ins Grübeln über irgendeinen Aspekt seiner Welt versunken schien.
Außerhalb seines Gesichtsfeldes über dem Haus reflektierte der Mond die Sonne eines Tages, der noch nicht angebrochen war, und warf das fahle Licht von morgen auf den Garten und auf die Papierbirken.
Die Veranda lag im Schatten.
Merlin tappte zur Küchentür, die wie ein raumhohes Sprossenfenster bis zum Boden verglast und eigens für ihn eingebaut worden war, damit der Wolfshund hinausschauen konnte. Dort blieb er, im Dunkeln kaum sichtbar, wachsam stehen.
Gradys Fenster hatte drei Reihen von jeweils drei Scheiben übereinander. In einem anderen Haus, Meilen von hier entfernt, gab es ein identisches Fenster, durch das Gradys Mutter ihre Zukunft vorhergesehen hatte.
Ein Jahr vor Gradys Geburt hatte sein Vater seiner Mutter einen Welpen geschenkt, zur Hälfte ein Deutscher Schäferhund, zur anderen Hälfte alles andere. Sie nannte ihn Sneakers, weil er ein dunkles Fell hatte und Pfoten, die so weiß wie Tennisschuhe waren.
Es war ein prächtiges Abenteuer gewesen, mit Sneakers aufzuwachsen, obwohl der Hund den größeren Teil seiner Zuneigung Gradys Mutter vorbehielt. Er liebte seinen menschlichen Bruder, aber Ellen Adams betete er an.
Paul, Gradys Dad, arbeitete im Sägewerk. Ein paar Wochen vor dem achten Geburtstag seines Sohnes kam er bei der Arbeit ums Leben.
Die riesige Zuschneidemaschine, die Baumstämme in handlichere Stücke sägte, war mit sämtlichen Sicherheitsvorkehrungen ausgerüstet. Die Säge war auch nicht das Problem gewesen.
Das Problem waren die Menschen. Eine Gruppe, die gegen das Abholzen war, hatte in jede der zahlreichen, rein zufällig ausgewählten und zum Abholzen markierten Kiefern zwanzig Zentimeter lange Stahlstifte getrieben. Das tötete die Bäume nicht, machten sie jedoch als Nutzholz unbrauchbar.
Abholzungstrupps identifizierten die meisten ruinierten Exemplare. Nur eines übersahen sie bei ihrer Inspektion.
Die riesige Kreissäge riss die Stifte aus dem Holz, verhedderte sie zu stacheligen Knoten und spuckte sie aus. Als das Sägeblatt auf den Widerstand der Stahlstifte traf, kappte ein Sensor die Stromzufuhr der Säge, doch die zerfetzten Stifte flogen bereits mit Höchstgeschwindigkeit durch die Luft und mit ihnen ein herausgebrochenes Stück des Sägeblatts, das breit zu grinsen und dabei seine Zähne zu zeigen schien.
Grady hatte nie genau erfahren, welche Verletzungen dieses Schrapnell seinem Vater zugefügt hatte. In Anbetracht der lebhaften Bilder, die seine Vorstellungskraft
heraufbeschwor, hätte man es ihm vielleicht doch besser sagen sollen. Vielleicht aber auch nicht.
Mitarbeiter des Sägewerks, die Polizei, Freunde und der Geistliche hatten Ellen geraten, sich die Leiche nicht anzusehen. Aber Paul war, wie sie sagte, »die andere Hälfte meines Herzens gewesen«. Sie weigerte sich, diese Ratschläge zu beherzigen.
Sie begleitete ihren toten Ehemann vom Sägewerk zum Gerichtsmediziner, der die Todesursache ermittelte. Später begleitete sie ihn vom Gerichtsmediziner zum Leichenbestatter.
Der Mut seiner Mutter angesichts ihres entsetzliches Verlustes und ihr Glaube waren gewaltig. Der junge Grady hatte aus ihrem Vorbild seine Kraft geschöpft.
Er liebte seinen Dad. Der Verlust war so schmerzlich, dass er sich fühlte, als sei er aufgeschnitten und einer lebenswichtigen Substanz beraubt worden. Lange Zeit war ihm jeden Morgen beim Aufwachen seine Unvollständigkeit bewusst.
Weil seine Mutter es aushielt, hielt auch Grady es aus. Bei ihm wurde aus Durchhaltevermögen Schicksalsergebenheit, später stillschweigende Duldung und schließlich innerer Friede.
Lange bevor er Frieden fand, nur einen Monat nach dem Tod seines Vaters, wachte er nach Mitternacht auf und ging nach unten, um einen Happen zu essen. Er war nicht hungrig, aber er konnte nicht einfach im Bett liegen bleiben und nachdenken.
Unten brannte bereits eine Lampe im Flur. Seine Mom saß an dem Tisch in der Küche, in die nur das Licht der
Flurlampe fiel Sie saß mit dem Rücken zu ihm und schaute durch das Fenster in die Nacht hinaus.
Neben ihrem Stuhl saß Sneakers. Er hatte den Kopf auf ihren Schoß gelegt. Mit ihrer rechten Hand strich sie dem Hund zärtlich und unermüdlich über den Kopf.
Seine Mom wusste nicht, dass Grady in der Tür stand. Der Hund wusste es mit Sicherheit, aber er
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