Die Unbekannten: Roman (German Edition)
angreifenden Stier aufzuhalten. Falls sich der Peiniger mit der Sniper bewaffnet hatte, würde das Eichenholz Henry keinen ausreichenden Schutz bieten.
Auf der anderen Seite der Tür waren schlurfende Schritte zu hören, als der Eindringling auf dem oberen Treppenabsatz umdrehte. Schwere Schritte stiegen in den Keller hinunter, wurden leiser und waren schließlich nicht mehr zu hören.
Henry kehrte leise an den Esstisch zurück. Er legte die Schrotflinte hin, blieb jedoch stehen. Obwohl der Wein seiner nicht würdig war, leerte er das Glas und schenkte sich nach.
Er rechnete damit, Geräusche von unten zu hören, doch die Stille hielt an.
Wenn der Peiniger Henry beobachtet hatte, wie er zwei schwere Koffer ins Haus trug, und wenn es jemand war, der wusste, was sich in diesen Gepäckstücken verbergen
könnte, dann hatte er sie vielleicht schon gefunden.
Henry wartete auf das Geräusch, mit dem die Kellertür ins Freie aufging und die Regentüren über der Außentreppe nach oben gedrückt und auseinandergeklappt wurden. Nichts.
Nach einer Weile setzte er sich an den Tisch.
Wenn der Peiniger es irgendwie geschafft hatte, leise mit den zwei Millionen Dollar zu verschwinden, wäre das zwar ein harter Schlag, aber keine Katastrophe. Henry hatte noch geschliffene Diamanten im Wert von fünf Millionen bei sich und weitere zehn Millionen in Inhaberobligationen. In den Banksafes in- und ausländischer Geldinstitute bewahrte er ein Vermögen in Goldmünzen auf, deren Wert sich nach ihrem Gewicht bemaß, und auch in seltenen Münzen von größerem Wert als ihr Edelmetallgehalt.
In den Kreisen, in denen sich Henry einst bewegt hatte, hatte die Veruntreuung eine so lange Geschichte, dass manche darin eine ehrenwerte Tradition sahen. Die Summen, die in der Vergangenheit aus dem System abgeflossen waren, waren jedoch ein Hungerlohn im Vergleich zu den Vermögen, die in den letzten Jahren aus den Zapfhähnen gesprudelt waren.
Diejenigen, die Milliarden stahlen, waren Wale, und ganze Schwärme von ihnen durchpflügten die Gewässer, majestätische Superdiebe, für die Langfinger wie Henry nichts weiter als Lotsenfische waren. Er hatte angenommen, die dreißig Millionen, die er aus dem Strom herausgefiltert hatte, würden nicht vermisst.
Jetzt fragte er sich, ob es ein Irrtum gewesen sein könnte zu glauben, ein kleiner Fisch könne gefahrlos zwischen Leviathanen schwimmen. Vielleicht verschlangen die Wale kleine Fische so selbstverständlich wie Krill oder Plankton.
Derjenige, der die Stufen herauf- und hinuntergestiegen war, wollte, dass Henry den Keller durchsuchte. Die anschließende Stille war dazu gedacht, ihn zu zermürben.
Er sollte geködert werden. Doch er dachte gar nicht daran, anzubeißen.
Ebenso wenig würde er bei Nacht aus dem Haus gehen, um den Restinhalt des Landrovers zu überprüfen. Dazu wäre es bei Tagesanbruch noch früh genug.
Der Gedanke an den Tagesanbruch ließ ihn Überlegungen dazu anstellen, wie sich seine Situation verschlechtern könnte, wenn sein Feind im Lauf der Nacht die Stromzufuhr kappte. Er wollte sich nicht in absoluter Schwärze durch ein fremdes Haus tasten müssen.
Als die University of Colorado diesen Ort für forstwirtschaftliche Forschungsprojekte nutzte, hatte es sich ausgezahlt, den Stromlieferanten für die Verlegung des Kabels einen Graben im Feldweg ausheben zu lassen. Aber die Leitung musste aus dem Boden herauskommen, bevor sie ins Haus gelangte, und das war eine Schwachstelle, die ihn angreifbar machte.
Im Keller hatte er einen Verteilerkasten gesehen. Falls sein Peiniger noch dort unten war und beschloss, ein paar Kippschalter umzulegen, wäre Henry so gut wie blind.
Er malte sich aus, wie er sich argwöhnisch durch lichtlose
Räume tasten und dicht neben sich eine raue, gesenkte Stimme hören würde, die flüsterte: Henry .
Als seine Ängste sich zuspitzten, durchsuchte er die Küchenschränke und die Schubladen, bis er eine Taschenlampe und Ersatzbatterien fand. In Ordnung. Er würde zurechtkommen.
Jetzt, nur wenige Minuten nach zehn, war das Morgengrauen noch mindestens acht Stunden entfernt. Wenn er die ganze Nacht darauf achtete, ob die Geräusche eines Einbruchsversuchs zu hören waren, würde er bei Tagesanbruch erschöpft sein. Er war jetzt schon ermattet und brauchte Schlaf, um die lebensnotwendige Geistesgegenwart wiederzuerlangen.
Er wollte sämtliche Lichter brennen lassen. Aber zum Schlafen hatte er immer Dunkelheit gebraucht. Wenn er nur in einem
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