Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Titel: Die Unbekannten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
Vom Netzwerk:
Maßstäben abwich.
    Einer der Auserkorenen zu sein bedeutete dazuzugehören , bedeutete Freiheit von Selbstzweifeln, bedeutete, dass man immer wusste, was man dachte und was man denken sollte, bedeutete Wohlbehagen . Doch jetzt begriff Henry, dass es auch bedeutete, sich intellektuell so behaglich eingerichtet zu haben, dass man nicht mehr ohne weiteres um die Ecke denken konnte. Er hatte geglaubt, indem er seine innere Bestie von jeglicher Zurückhaltung befreite, hätte er sich über die Vergangenheit erhoben, und doch hatte er seine Flucht aus D.C. in diesen gefährlichen Zeiten ganz so organisiert, wie er in den alten Zeiten, als die Welt noch nicht begonnen hatte, in einen Abgrund zu schlittern, einen Ausflug in die Hamptons geplant hätte.
    Der Peiniger hatte sich eindeutig die Fähigkeit bewahrt, um die Ecke zu denken. Dieser Hurensohn hatte
es auf mehr als das Geld und die Farm abgesehen und verfolgte sein Ziel mit einer Strategie und Taktiken, die Henry verwirrten und ihn aus dem Gleichgewicht brachten.
    Henry musste geistig beweglicher werden. Er musste sich bemühen, das Unerwartete zu erwarten. Das Undenkbare zu denken.
    Nachdem er aus einer Packung in einer Küchenschublade einen Müllbeutel geholt hatte, kehrte Henry ins Schlafzimmer zurück. Er warf die blutgetränkten Lederhandschuhe in den Beutel und legte ihn auf den Sessel.
    Als er die blutige Tagesdecke aus Chenille vom Bett zog und sie zur Seite legte, um sie später reinigen zu lassen, rief er sich ins Gedächtnis zurück, dass Überleben geistige Beweglichkeit erforderte. Erwarte das Unerwartete. Denke das Undenkbare. Er versuchte, sich etwas Undenkbares einfallen zu lassen, damit er darüber nachdenken konnte.
    Aber als Monster im Werden fiel ihm nichts Undenkbares, kein Motiv und keine Tat ein, die ihm schockierend oder auch nur fremd erschienen wäre. Grenzen und Übertretungen waren für ihn bereits ohne Bedeutung.
    Dann sah er vor seinem geistigen Auge das Bild seines Zwillingsbruders, dessen Gesicht von einer Kugel zerschmettert wurde. Er sah den Vorfall so vor sich, wie er sich abgespielt hatte. Dann sah er seinen Bruder auf dem Boden der Scheune liegen, das Gesicht so zerstört, wie es gewesen war.
    Nichts von all dem war undenkbar.
    Aber dann sah er etwas, das nicht vorgefallen war: Die Augen mit den Einblutungen wurden wieder klar, das angestaute Blut verschwand, die Augen wurden wieder lebendig und konnten sehen.
    Nein. Das war nicht nur undenkbar; es war unmöglich. Es konnte keine Rückkehr vom Tod geben, weil es nach dem Tod keinen Ort gab, von dem aus man zurückkehren konnte.
    Der Dichter Emerson, Großvater der modernen Intellektuellen, sagte, man müsse seinem Willen trauen, sich auf die Willenskraft verlassen, und alles würde möglich. Er sagte: »Was ein Mann tut, das hat er.« Er sagte, Menschen bräuchten keine Hoffnung und keine Furcht, und meinte damit die Hoffnung auf etwas, das über sie hinausging, etwas Jenseitiges, meinte die Furcht vor ewigen Folgen.
    Henry Rouvroy hatte von seinem ermordeten Bruder nichts zu befürchten, nur von einem unbekannten Peiniger, der, wenn die Wahrheit endlich herauskam, ein Mann wie er sein würde, nicht sein toter eineiiger Zwillingsbruder, der wieder zum Leben erwacht war, sondern ein Mann, der wie er war, weil ihn dieselben Einflüsse geformt hatten und er einen Verstand besaß, der bar jeglichen Aberglaubens war.
    Aus zusätzlichen Kissen und Decken formte er auf dem Bett einen Körper. Dann zog er die Zudecken über die Gestalt des Schläfers.
    In der Küche holte er den Stuhl unter dem Türknopf der Hintertür weg und rückte ihn wieder an den Esstisch. Auch den Stuhl, den er unter die vordere Haustür geklemmt
hatte, stellte er wieder zurück. Nur den Stuhl vor der Kellertür ließ er vorläufig dort stehen.
    Sollte der Peiniger ruhig noch einmal seinen Hausschlüssel benutzen. Diesmal würde Henry auf ihn vorbereitet sein.

26
    Zu einer Tageszeit, zu der die Lastwagen mit Baumstämmen nicht mehr unterwegs zum Sägewerk waren und von dort kein Bauholz mehr abtransportiert wurde, waren diese ländlichen Straßen menschenleer.
    Die Scheinwerfer des Explorer spielten auf diversen Kombinationen von weißen Zaunlatten und ließen die Baumschatten wie dunkle Türen vor mondbeschienenen Wiesen aufschwingen.
    Die bewaldeten Berge waren schwärzer als der Himmel, und der Mond stand hoch über einem Sternenmeer.
    Am Ende der Landstraße folgte Cammy Gradys Auffahrt, fuhr am Haus vorbei

Weitere Kostenlose Bücher