Die Unbekannten: Roman (German Edition)
ausgelöst hatte. Extremer Sadismus war schon immer einer seiner grundlegenden Wesenszüge gewesen. Für den größten Teil seines Lebens hatte er diesen Hang unterdrückt, um eine Gefängnisstrafe zu vermeiden. Er hatte diese Energien in seine Karriere einfließen lassen und seinen Ehrgeiz damit angestachelt.
Vor einem Jahr hatte er jedoch aufgrund seiner Insiderinformationen erkannt, dass eine Zeit bevorstand, in der soziale Umwälzungen und Chaos zu einem weitreichenden Erliegen regionaler Behörden führen und Umstände hervorbringen würden, unter denen ein Sadist seinen Trieben nachgeben konnte und kaum Strafe befürchten musste. Das Land würde bald zu einem spannenden Freizeitpark für Männer wie ihn werden.
Um sich auf diese Zeit unbegrenzter Genüsse vorzubereiten, blieb ihm noch viel zu tun. Verbrauchsgüter für Jahre einlagern. Die ersten circa hundert Meter des unbefestigten Wegs diesseits der Schnellstraße besäen, damit Unkraut und Gras den Weg verschwinden ließen. Einen natürlich wirkenden Holzbruch erschaffen, der die Zufahrt noch mehr blockierte, aber erst, nachdem er einen befahrbaren Pfad durch den Wald angelegt hatte,
um mit einem Geländefahrzeug an dem Totholz vorbeizukommen.
Er musste auch die Pferde und Hühner verkaufen oder sich ihrer anderweitig entledigen. Schließlich hatte er die Identität seines Bruders nicht angenommen, um selbst Farmer zu werden.
Der Gedanke daran, Hühner zu füttern und ihre Eier einzusammeln, ließ Henry erschauern. Und er würde sie auch nicht schlachten und rupfen. Ein Mann von seiner Bildung, Kultiviertheit und Raffinesse sollte sich nicht dazu herablassen, die Nahrung, die er zu sich nahm, selbst zu töten.
Bevor er die Frauen tötete, die er im Kartoffelkeller zu halten gedachte, würde er sie wahrscheinlich beißen, als Teil seines Spiels. Er hatte jedoch nicht die Absicht, sie zu essen . Das hatte man in Hollywoodfilmen des zwanzigsten Jahrhunderts zu oft gesehen, und Henry begegnete Klischees mit derselben Verachtung, die er auch Leuten entgegenbrachte, die Fastfood aßen, Anzüge von der Stange trugen, an Dinge glaubten, und Menschen im Allgemeinen.
Während er auf den nächsten Zug seines Feindes wartete, dachte Henry eine Zeit lang an gar nichts. Manchmal stellte es eine Erleichterung dar, nicht zu denken. Er konnte nach Belieben vollkommene Leere in seinem Kopf erzeugen, das unbeschriebene Blatt werden, das geistlose, unbeseelte Fleisch, das Nichts, das die Wahrheit jedes menschlichen Wesens war.
Ralph Waldo Emerson, das literarische Genie und einer von Henrys Helden, hatte fest daran geglaubt, jeder von uns müsse ein Kreis sein, der seine eigene Wahrheit
in jedem einzelnen Moment neu erfindet und der seine eigene Wahrheit verzehrt wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ständig vorwärtsrollend, für diesen Augenblick und den nächsten lebend, nur für diesen Augenblick und den nächsten, immer auf der Suche nach dem Neuen, zum Neuen werdend, Metamorphosen durchlaufend, stets im Wandel mit unseren sich stets wandelnden Wahrheiten. Im Übergang, in der Weiterentwicklung hin zum stets neuen Ich, sagte Emerson: »Ich, der Unvollkommene, verehre meine eigene Vollkommenheit.«
Jetzt war der unvollkommene Henry ein vollkommener Kreis. Nichts drinnen im Kreis. Nichts draußen. Nur eine feine Linie, die sich krümmte, um sich selbst zu treffen.
Das war eine Form von Meditation, Meditation ohne auch nur das Bewusstsein, zu meditieren, Meditation ohne Sinn und Zweck.
Nachdem er aufgehört hatte, nichts zu sein, setzte er sich an den Küchentisch und trank den mittelmäßigen Wein. Er wartete auf eine Entwicklung, die den toten Punkt überwinden und die derzeitige Pattsituation zwischen ihm und seinem unbekannten Feind beenden würde.
Der Moment kam, als er Schritte hörte, die die hölzerne Kellertreppe heraufkamen.
Er stand auf und griff nach der Flinte. Dann trat er zu der Tür, unter deren Knauf er den Stuhl geklemmt hatte.
Die Schritte waren schleppend, als trüge der Eindringling eine schwere Last oder sei ermattet. Schließlich erreichte er die oberste Stufe.
Henry wartete stumm. Der Mann auf der Kellertreppe tat das Gleiche.
Nach einer Weile drehte sich der Türknauf hin und her, und die Lehne des gekippten Stuhls quietschte. Dann bewegte sich der Knauf nicht mehr.
21
Nach dem Abendessen kehrte Lamar Woolsey in sein Hotelzimmer zurück und schaltete seinen Laptop ein. Er hatte sechs E-Mails.
Fünf beantwortete er
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