Die Unbekannten: Roman (German Edition)
durchdachte sein Vorgehen gründlich und legte Wert auf Einzelheiten.
»Ich vermute, die Alarmanlage wird dafür sorgen, dass die Feuerwehr schleunigst auftaucht«, sagte Liddon.
»Wahrscheinlich in weniger als vier Minuten. Die haben es ja nicht weit.«
Da das Vorgrün zum Fairway hin leicht anstieg, sogen die Konturen der Landschaft schwache Ströme Morgenluft in die Senke des tieferliegenden Grüns. Dort kreisten diese Ströme und zogen einen dickeren, kniehohen Nebelschleier an, der sich um Liddon und Neems legte und ebenfalls kreiste, wie ein Whirlpool, der in Zeitlupe sprudelte.
»Sie wollen Kirsten wirklich so sehr?«, fragte Liddon.
Neems nickte. »Ich muss sie haben.«
»Wie lange werden Sie … sich mit ihr Zeit lassen?«
»Zwei Stunden. Drei.«
»Sie trauen sich das zu?«
»Unbedingt.«
»Das ist schon irgendwie irre«, sagte Liddon.
»So irre, dass es keiner täte, der einen Auftragsmord begeht.«
»Da ist was dran. Also gut … von mir aus.«
Neems’ Lächeln war so bezaubernd, dass er sich immer noch für Weihnachtsumzüge geeignet hätte. »Zwei Dinge noch. Erstens – sind Sie sich sicher, was Benny angeht? «
Benny war Benjamin Wallace, Liddons dreijähriger Sohn.
»Als Vater mache ich mich genauso schlecht wie als Ehemann«, sagte Liddon.
»Es gibt Kindermädchen.«
»Ich bekäme ja doch nur eine Schreckschraube, die die Stimmung im Haus verdirbt, oder irgendein junges Ding, das wegen frei erfundener sexueller Belästigung einen Zivilprozess gegen mich anstrengt. Ist Benny ein Problem für Sie?«
»Weshalb sollte er ein Problem sein? Er ist drei Jahre alt.«
»Ich meinte kein physisches Problem.«
»Mir macht das nichts aus«, sagte Neems.
»In Ordnung. Dann ist das also geregelt.«
»Ich wollte nur sicher sein, dass es Ihnen nichts ausmacht. «
»Da ist doch nichts dabei«, sagte Liddon. »Was war der zweite Punkt?«
»Reine Neugier.«
»Ich muss jetzt los.«
»Sie wenden sich damit an mich – Sie müssen also gewusst haben, dass ich Judy Hardy kaltgemacht habe.«
»Selbstverständlich.«
»Wann haben Sie es herausgefunden?«
»Bevor ich Ihren Fall übernahm«, sagte Liddon.
»Sie haben mich kostenlos verteidigt.«
»Sie hatten kein Geld.«
»Ich dachte, Sie hätten mich verteidigt, weil Sie daran geglaubt haben.«
»An Ihre Unschuld? – Nein. Niemals.«
»Dann haben Sie es umsonst getan, weil …?«
»Was meinen Sie wohl, Rudy?«
»Für den Fall, dass Sie eines Tages jemanden wie mich brauchen könnten.«
»Na bitte!«
»Waren Sie verheiratet, als Sie meinen Fall übernommen haben?«
»Erst seit ein paar Monaten.«
»Wussten Sie damals schon, dass Sie vielleicht …«
»Nein. Nein. Damals habe ich sie noch geliebt.«
»Das ist traurig.«
Liddon zuckte die Achseln. »So ist das Leben nun mal.«
»Sie arbeiten oft als kostenloser Pflichtverteidiger.«
»Ich versuche nach Möglichkeit, Zeit dafür zu erübrigen. «
»Dann haben Sie noch mehr von meiner Sorte?«
»Ein paar. Falls ich sie mal brauchen sollte.«
»Sie sollen jedenfalls wissen, dass ich Ihnen dankbar bin.«
»Gern geschehen, Rudy.«
»Nicht nur für damals, sondern auch für diese Gelegenheit. «
»Ich weiß, dass Sie sehr sorgfältig arbeiten. Aber jetzt sollte ich besser gehen.« Er machte zwei Schritte auf den
Wald zu, doch dann drehte er sich noch einmal zu dem Greenkeeper um und sah ihn an. »Ich hätte auch eine Frage aus reiner Neugier.«
»Welche?«
»Haben Sie seit Judy Hardy …«
»Ja.«
»Oft?«, fragte Liddon.
»Ich zwinge mich, zwischendurch zu warten.«
»Ist es schwierig – das Warten?«
»Ja. Aber dann ist es umso reizvoller, wenn ich es wieder tue.«
»Wie lange ist die Wartezeit?«
»Sechs Monate. Acht.«
»Sind Sie jemals wieder verdächtigt worden?«
»Nein. Und das wird auch nie mehr passieren.«
»Sie sind ein kluger und vorsichtiger Mann. Deshalb habe ich Ihren Fall übernommen.«
»Außerdem mögen mich die Leute«, sagte Neems.
»Ja. Das stimmt. Und es ist immer von Vorteil.«
Liddon setzte seinen Weg fort – über das Grün und das Rough zum Fußweg durch den Wald. Ihn trennten noch zweihundert Meter von der grauenhaftesten Begegnung seines Lebens.
40
»Henry.«
Der Traum war eine Montage aus Nahaufnahmen voller Action: lange, nackte Gliedmaßen, die um sich schlugen, blondes Haar, das hin und her geworfen wurde, Hände mit roten Fingernägeln, die voller Begierde zupackten und abwehrend um sich schlugen, üppige Lippen, die verzückt
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