Die Unbekannten: Roman (German Edition)
er weiter nach Norden, bis er nach etwa einer Meile eine kleine steinerne Brücke über einen derzeit ausgetrockneten Bach erreichte. Er nahm seinen Rucksack ab und stellte ihn auf die taillenhohe Brüstung.
Als Erstes packte er die Pistole weg. Dann nahm er aus dem oberen Fach des Rucksacks eine der sechs Flaschen Tequila, die alle in eigenen Stoffbeuteln steckten.
Zwei Wagen tauchten im Süden auf, doch es waren nicht die Schläger, die mit Verstärkung zurückkehrten. Eine Limousine und ein Pick-up rauschten vorüber, ohne ihr Tempo zu drosseln.
Tom schraubte die Kappe ab, riss dabei die Steuerbanderole durch und öffnete die Flasche. Er hielt sie sich unter die Nase und atmete ein.
Der Geruch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und seinen Magen in Vorfreude flattern. Er zitterte so heftig, dass er den Tequila mit beiden Händen halten musste.
Nachdem er eine Weile so dagestanden hatte, vielleicht fünf Minuten lang, schraubte er den Verschluss wieder auf die Flasche. Er schöpfte keinerlei Befriedigung aus seiner Selbstbeherrschung, denn er wusste, dass seine Willenskraft nicht von Dauer sein würde.
Er verfluchte sich selbst für seine plötzliche Enthaltsamkeit, warf die Flasche von der Brücke und hörte, wie sie auf den Steinen im trockenen Bachbett zerschellte.
Er zog den Reißverschluss zu, schulterte den Rucksack wieder und rückte den Hüftgurt zurecht.
Bald würden seit dem ernüchternden Zwischenfall auf dem Rastplatz über der Klippe und seiner Höhlenwohnung zwölf Stunden vergangen sein. Er war seit zwanzig Stunden wach und in den letzten vier Stunden weit gelaufen. Er hätte im Stehen einschlafen können, doch er war wach, auf der Hut und grimmig entschlossen.
Er wusste, wohin er gehen musste. Vor ihm lag noch ein sehr, sehr weiter Weg.
Er wusste auch, was er tun musste. Die Aufgabe würde nicht einfach sein. Gut möglich, dass er nicht den Mut haben würde, sie zu Ende zu führen.
Als Tom Bigger in die letzten Stunden der Nacht hineinlief,
überkam ihn wieder das Gefühl, nicht allein zu sein, das Gefühl, er würde auf Schritt und Tritt verfolgt. Und zwar nicht nur von Kojoten. Und er fürchtete sich.
39
Für einen Waldpaziergang am Stadtrand von Seattle trug Liddon Wallace Brioni-Slipper, die von Überschuhen aus Gummi geschützt wurden, eine Hose aus grauem Wollstoff von Ermenegildo Zegna, einen Gürtel von Mark Cross, ein Geoffrey-Beene-Hemd, einen Armani-Pullover, eine schwarze Lederjacke von Andrew Marc und eine Patek-Philippe-Armbanduhr.
Es stellte sich heraus, dass er dem Fußweg aus festgetretener Erde trotz der marmorierenden Schatten und des Dunstes mühelos folgen konnte. Die Morgendämmerung war schon vor fast einer Stunde angebrochen. Aber Nebel verschleierte das Antlitz der Sonne und ließ nur indirektes Licht durch.
Im dämmrigen Morgendunst wirkten die riesigen Douglasfichten und die Schierlingstannen schwarz und die Farnsträucher mehr blau als grün. Sogar die dichten Grüppchen von Hornsträuchern mit ihrer ungestümen Pracht an leuchtend roten und goldenen Blättern loderten nicht wirklich in der tristen, triefenden Luft, sondern glommen eher; ihre riesigen weißen Blüten, die normalerweise Ähnlichkeit mit Clematis aufwiesen, sahen jetzt aus wie tote Vögel im Geäst.
Nach gut dreihundert Metern führte der Pfad aus dem Wald hinaus. Dahinter lag das achtzehnte Loch des Golfplatzes.
Ein Golfcart mit Elektromotor, wie sie die Greenkeeper benutzten, stand auf dem Grün. Als Liddon Wallace zwischen den Bäumen herauskam, nahm Rudy Neems, der Boss der Landschaftspflegertruppe, die Fahne für das achtzehnte Loch aus dem Wagen und stellte die Fahnenstange in den Einsatz.
Um die Hälfte des Grüns herum und dahinter befanden sich drei Bunker und dahinter ein Fairway, das zu einem Wasserhindernis abfiel. Die erste Hälfte des Fairway, hinter dem Wasser, löste sich im Dunst auf, und der Abschlag war ein gutes Stück außer Sichtweite. Ein schmales Rough zog sich an jeder Flanke des Fairway entlang und hinter den beiden Roughs ging der Wald weiter.
Rudy Neems stand neben dem Buggy und beobachtete, wie Liddon näher kam. Der Landschaftsgärtner war achtunddreißig, untersetzt, hatte einen blonden Schnurrbart und dichtes Haar, das von Natur aus in Ringellöckchen wuchs. Ironischerweise war er als Junge oft ausgewählt worden, um bei Weihnachtsumzügen einen Engel zu spielen.
»So ein beschissenes Wetter«, sagte Liddon.
Neems sprach so leise, dass seine
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