Die Unbekannten: Roman (German Edition)
ledernen Arbeitshandschuhe. Als er sie letzte Nacht auf der Bettdecke vorgefunden hatte, hatte er sie in einen Müllbeutel gesteckt und den Beutel auf den Lehnstuhl im Schlafzimmer gestellt, da er beabsichtigte, die Handschuhe am kommenden Morgen zu entsorgen.
Jetzt war der Morgen da, und die Handschuhe lagen auf dem Tisch. Sie schienen mit noch mehr Blut getränkt zu sein als am Vorabend, ein großer Teil davon schon getrocknet und verkrustet, aber einzelne Stellen waren noch nass und klebrig.
Neben den Handschuhen entdeckte er einen Bleistift und den Notizblock, der neben dem Telefon in der Küche gelegen hatte. Die gelbe Farbe auf dem Bleistift war mit getrocknetem Blut gesprenkelt.
Auch das oberste Blatt des Notizblocks war mit ein paar Blutschmierern befleckt, die jedoch die Nachricht nicht verbargen. Die drei handgeschriebenen Zeilen waren eingerückt.
Henrys Grauen kehrte so plötzlich und mit solcher
Wucht zurück, dass er sich im ersten Moment absolut keinen Reim auf die Wörter machen konnte. Es war, als seien sie in der vergessenen Sprache einer untergegangenen Zivilisation geschrieben. Seine Furcht machte ihn vorübergehend zum Analphabeten.
Als er wieder lesen konnte, begriff er, dass er drei Verszeilen vor sich hatte. Sie reimten sich nicht, weil es sich um ein Haiku handelte, ein kurzes Gedicht in der japanischen Versform von siebzehn Silben.
Natürlich kannte sich Henry mit Haikus aus, denn schließlich hatte er seinen Abschluss in Harvard gemacht, aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil sein Bruder Jim zweiundfünfzig dieser Gedichte geschrieben hatte, die in einem schmalen Bändchen erschienen waren.
Sturzflug der Weihe –
Kalligraphie, die Klauen,
dann erst der Schnabel.
Henry erinnerte sich an die zwei über den Himmel gleitenden Kornweihen, deren Kreise sich überschnitten hatten, als er mit seinem Bruder zur Scheune gegangen war.
Kalligraphie. Wunderschöne japanische Schriftzeichen, die mit einem Pinsel und Tusche ausgeführt wurden.
Henry war weder ein Dichter noch ein großer Leser von Gedichten, doch er vermutete, um einen herabstoßenden Vogel zu beschreiben, könnte ein Pinsel mit graziöser Strichführung eine akzeptable Metapher sein.
Die zweite Hälfte beunruhigte ihn mehr als die erste. Sie machte daraus ein Gedicht über den Tod, ein Gedicht,
das sich weniger um den Greifvogel drehte als um die unerwähnt gebliebene Maus, die von den Klauen durchbohrt und vom Schnabel zerrissen würde.
Wenn Henry die Kornweihe war, dann musste sein Zwillingsbruder die Maus sein, und in diesem Gedicht ging es um Jims Ermordung in der Scheune.
Wenn dagegen Jim die Kornweihe war, dann war er, Henry , die Maus, und das Gedicht thematisierte seine bevorstehende Ermordung.
Er erinnerte sich an Jims Worte, die er direkt vor dem Betreten der Scheune von sich gegeben hatte: »Raubtiere und ihre Beute. Die Notwendigkeit des Todes, wenn das Leben Sinn und Maß haben soll. Der Tod als Bestandteil des Lebens. Ich arbeite an einer Reihe von Gedichten zu diesen Themen.«
Mehr über den Hohn als über die Drohung – und vor allem darüber, dass man ihn zum Narren hielt – war Henry Rouvroy so aufgebracht, dass er das oberste Blatt von dem Notizblock abreißen, es zerfetzen und in der Toilette runterspülen wollte, doch die Vorstellung, den Block auch nur zu berühren, widerte ihn an.
… die Klauen, dann erst der Schnabel.
Diese kalten Worte schienen einen grausamen Tod durch Erstechen und Aufschlitzen zu verheißen.
… die Klauen, dann erst der Schnabel.
Jim war nicht erstochen worden. Er hatte ihn erschossen. Es war demnach unwahrscheinlich, dass es in dem Gedicht um Jims Tod ging.
Henry erinnerte sich wieder an die fünf Messer, die auf dem Tisch gelegen hatten, als er die Küche gemeinsam mit Jim und Nora erstmals betreten hatte.
Fünf Mehrzweckmesser mit zehn und zwölf Zentimeter langen, brünierten Klingen, zwei davon eine Art Springmesser.
Bevor sie zu dritt Kaffee getrunken und Zimtschnecken gegessen hatten, hatte Jim die Messer auf die Arbeitsfläche neben dem Kühlschrank gelegt.
Henry wandte sich von dem Haiku ab und ging zu der Anrichte.
Dort lagen drei Messer. Zwei fehlten.
41
Der Fichtenduft, die sarkastische Bedeutsamkeit des Schierlings und die Ironie des Hornstrauchs, der auf die Kreuzigung Christi anspielte, behagten Liddon Wallace, als er dem Fußweg durch den Wald folgte, nachdem er den Auftrag zur Ermordung seiner Frau und seines Kindes erteilt hatte.
Das
Weitere Kostenlose Bücher