Die undankbare Fremde
auf.
Was für ein Luxus hier herrschte! Für alltägliche Belange bediente man sich einer konjunktivreichen höfischen Sprache. Bei uns dehnten wir das Private ungebührlich ins Öffentliche aus, hier fraß sich das Offizielle ins Private hinein. Sie haben sich allerdings so konjunktivistisch verausgabt, dass ihnen irgendwann kein Konjunktiv und keine Kraft mehr für höhere Belange übrig blieben. Hielt ich mich frisch für Höheres und rief kräftesparend: »Mach zu«, erinnerte ich die Bürger an den Befehl: »Schuss frei!« Das Militär war noch ursprünglich, von der Verseuchung mit Diplomatensprache unberührt.
In der Schleuse ziehen wir uns einen gelben Plastikmantel und Gummihandschuhe über. Der Oberarzt drückt mir einen Spezialmundschutz mit Filter dicht ans Gesicht. Dann betreten wir das Krankenzimmer, in dem rund um die Uhr die Luft gefiltert wird. Und trotzdem stecken sich jährlich ein paar Angestellte an. Wir bleiben in großem Abstand zu einem kleinen schmächtigen Mann stehen. Das ist also das gefährliche Monstrum, das zu unserem Schutz im Käfig gehalten wird. Die Einzelhaft hat ihn ganz sanftmütig gemacht. Vor einer Woche ist er im Durchgangslager eingetroffen. In seinem Land hatte er sich von ehemaligen Gefangenen mit offener Tuberkulose angesteckt.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragt ihn der Oberarzt.
»Gut. Ich habe mit dem Rauchen aufgehört, huste und schwitze weniger.«
»Wir werden heute mit der Behandlung beginnen. Aber die Tuberkulosenkeime sind resistent. Sie lassen sich nicht so leicht unterkriegen.«
»Habe ich Löcher in der Lunge?«
»Löcher, so kann man das nennen. Und Sie haben Hepatitis C . Das kommt von einer verunreinigten Spritze. In unserem Spital wäre das nicht möglich.«
»Ich weiß. In meinem Land ist alles möglich.«
Er flieht weder vor einem Krieg, noch ist er ein politischer Aktivist. Er erfindet keine Verfolgungsgeschichte und klagt nicht. Wieso auch? Er ist am richtigen Ort angekommen. Dieser leere Raum ist das gelobte Land. Von hier aus geht es nur noch in den Tod oder in eine Zukunft.
Er zeigt auf das aufgeschlagene Wörterbuch auf dem Nachttisch und sagt das wichtigste Wort in der fremden
Sprache:
»Danke.«
»Sie sind hier in guten Händen. Werden Sie bald wieder gesund«, wünsche ich dem Mann zum Abschied.
In der Schleuse murmelt der Arzt beim Ablegen des Mundschutzes:
»Er weiß, dass er stirbt, wenn er nicht behandelt wird. Hoffentlich schiebt man ihn nicht mitten in der Behandlung ab. Dann wäre alles sinnlos gewesen.«
»Wie soll man das bewerkstelligen, wenn er eine tödliche Gefahr für die Umwelt darstellt?«
»Sie haben recht. Man kann ihn nur dann transportieren, wenn wir die Keime einigermaßen unschädlich gemacht haben. Aber wahrscheinlich sprechen sie auf die Medikamente nicht an.«
Auf dem Heimweg stelle ich mir vor, wie ich für den Unglücklichen auf seinem Sterbebett die letzten Worte hinter dem Mundschutz dolmetsche. Trifft allerdings die andere Variante ein, wird er wohl der glücklichste abgeschobene Flüchtling sein.
Als sprachlicher Notfalldienst kurve ich in Sprachen wie in verwinkelten Gassen herum, berühre den einen oder anderen Arm und schaue in viele Augen. Aufwühlende Fahrten sind das. Bei der ersten Begegnung mit meinen Klienten bin ich neugierig auf das jeweilige Problem, beim zweiten Mal vertieft sich sein Muster, beim dritten Mal wiederholt es sich, beim vierten Mal ärgert es mich, beim fünften Mal belastet es mich und nach dem sechsten Mal melde ich der Dolmetscherzentrale, dass ich Schwindel bekommen habe. Dass sich der Kopf dreht, das ist ein üblicher berufsbedingter Schaden. Eine Kollegin steigt dann für mich ins Sprachkarussell ein.
Etwas geschah mit mir. Die Weiblichkeit schob sich über mich, verdeckte mich ganz. Und sie war es und nicht ich, die gesehen wurde. Auf der Straße trafen mich anerkennende Blicke, und betrat ich einen Raum, war meine Erscheinung ein Ereignis. Man munkelte, ich sei unnahbar. Doch ich war zugänglich, es war bloß die Schönheit, die gleich einer Leibwächterin viele einschüchterte. Eine Engelin war herabgekommen, half mir in größter Not. Sie war Ausgleich für mein Fremdsein, aber auch dessen Steigerung. Sie war die personifizierte Fremdheit. Sie gab mir scharfe Konturen, diese trennten mich von den anderen. In meinem Land hätte ich keine Schärfe gebraucht, die Gemeinschaft hätte sie verwischt, hätte sie nie aufkommen lassen. Dort hätte ich nicht diese großen
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