Die undankbare Fremde
sich als Verräterin. Ich habe ihr geraten, die Fragen nach der Kinderzahl an die Neugierigen zurückzuschicken. Die meisten würden es nicht merken, sie zählten sowieso nur die eigenen Kinder.
Es ist frühmorgens, in der sterilen Spitalluft flattert die Alkoholfahne, flattern die Hände. Die Wangen der Patientin verkünden die Morgenröte.
»Morbus«, murmelt die Ärztin und fragt nach der täglichen Alkoholmenge.
»Ach, nur wenn Gäste kommen, ein Wodka-Orange, ein Glas Rotwein verdünnt mit Wasser, zwei-drei Schnäpse, kein Gramm mehr.«
»Aber Ihrer Leber geht es schlecht. Das Blutbild zeigt, dass der Alkoholkonsum massiv sein muss.«
Die Patientin bekommt einen genervten Ton, als würde sie sich mit ihrer Saubande-Familie unterhalten:
»Trinken Sie etwa nichts, wenn Gäste zu Ihnen kommen?«
Sie wendet sich an mich, hofft, dass ich mich an die ehernen Gesetze der Geselligkeit zu halten weiß.
»Sind Sie wieder umgefallen?«, erkundigt sich die Ärztin.
Ja, das böse, undurchdringliche Schicksal mäht sie immer wieder um. Einmal, mir nichts dir nichts, vor einem Restaurant. Sie wachte erst in der Notaufnahme auf.
»Und neulich stand ich in der Küche mit dem dampfenden Suppentopf, zack, schon lag ich am Boden – mit verbrühter Fotze.«
Ich schäme mich für meine Landsfrau und dolmetsche »mit verbrühter Scham«.
Das Wesen des Dolmetscherberufes liegt in der Tilgung der eigenen Persönlichkeit. Bemerken die Gesprächspartner nicht mehr, dass sie jemand dolmetscht, ist der Idealzustand erreicht. Gelingt es mir, auf diese Weise zu verschwinden, harre ich am Sprachfließband aus, will ich nach der Schicht in voller Größe auftauchen und zeigen, dass ich vernunft- und gefühlsbegabt bin.
Der Ärztin halte ich vor, allzu nachgiebig mit dem Patienten zu sein, ihn in seiner Opferrolle zu bestärken. Dem Psychiater pfusche ich ins Handwerk:
»Haben Sie gemerkt, die Patientin hat Humor, diese Kraftquelle könnten Sie nutzen.«
Nein, der Psychiater, bar jeglichen Humors, wünscht sich keinen Kommentar. Und mein Aufstand ist noch nicht zu Ende:
»In diesem Land hat man die Fremden nur auf dem Spitalbett gerne, aber wehe, sie werden selbstbewusst.«
Das Sprachpferd hat den Reiter abgeworfen, er stottert im freien Fall, versucht mich auf den rechten Pfad zurückzuführen, schlägt als nächsten Termin den Donnerstagnachmittag vor, aber ich bin schon weg, die Mähne weht im Galopp querfeldein. Danach melden sich Schuldgefühle. Unfähig bin ich, mich Autoritäten unterzuordnen.
Die Leiterin des Dolmetscherdienstes hat mich gewarnt:
»Diesen Beruf darf man nicht zu oft ausüben, sonst macht er krank.«
Klagten die Einheimischen, sie hätten kein Geld, bot ich ihnen meine Münzen an. Doch sie meinten, sie hätten es bloß nicht flüssig und wollten ihre Sparkonten nicht antasten. Es galt als unanständig, blank zu sein und die Freundschaft zum Geld borgen zu missbrauchen. Der beste Freund war doch die Kantonalbank. Dank dem Bankgeheimnis erfuhr die Ehefrau nicht, wie viel ihr Haushaltsvorstand verdiente. Die Kantonsregierung gab Empfehlungen für alle Haushalte heraus, wie hoch das Taschengeld für einen Zehnjährigen und wie niedrig das Haushaltsgeld für eine Ehefrau sein sollten. Nach dem gemeinsamen Znacht um 18 Uhr legten die Zehnjährigen und die Ehefrauen Rechenschaft über die Ausgaben ab. Hatte der Haushaltsvorstand Verständnis für Verschwendung, durfte die Hausfrau über die Supermarktmärkli frei verfügen.
Man glaubte nicht nur daran, das eigene Schicksal lenken zu können, man schuf auch die günstigen Voraussetzungen dafür. Ein Jugendsparkonto ebnete dem Neugeborenen den Einstieg in die Gesellschaft. Das Sparen über Generationen hinweg hatte sich gelohnt. Die Nachkommen mussten nicht für jeden Teller Leber auf gerösteten Kartoffeln herumrennen, in der Freizeit saßen sie im Ledersessel, blätterten in fremden Philosophien, unternahmen Bildungsreisen und frönten kultivierten Genüssen.
Ein sicherer Raum für aufregende Experimente war ein teures Restaurant. Man holte vertrauenswürdige Informationen ein, bestellte rechtzeitig einen Tisch, und voller Spannung schob man die Speisen im Mund hin und her. Erst jetzt entfalteten sie die ganze Palette menschlicher Regungen, ergossen sich in Superlativen über die Sauce, und beim Kauen defilierten vor ihnen vergangene Familien- und Geschäftsessen, sie verglichen Qualität und Preise, Beilagen und Wein, Bedienung und das Ambiente. Sie
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