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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irena Brezna
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befanden sich im rechtsfreien Raum. Auszurasten am gestärkten weißen Tischtuch war erlaubt. Schließlich war der Wein ungenügend gekühlt. Da strotzten sie vor Selbstbewusstsein. Sie wussten genau, was sie für ihr Geld zu erwarten hatten, und das Trinkgeld stuften sie nach der Servilität des Personals ab. Den freien Bürgern stand eine große Auswahl an raffinierten Speisen zu. »Probiere das oder das, wie schmeckt es dir?«, wurde ich ins knusprige Spiel der Demokratie eingeführt, doch ich blieb demokratieuntauglich, aß Kartoffeln ohne Oliven und trank Hahnenwasser.
    Dann wurde ich als Kellnerin angestellt, ungeschickt bediente ich mit einer traurigen Miene. Eines Abends steckte mir ein junger Geschäftsmann eine große Note zu.
    »Das habe ich nicht verdient, ich kann doch gar nicht bedienen«, wehrte ich ab.
    »Gerade deshalb, ich habe das steife Gehabe satt.«
    Ich grübelte nicht, ob er mich beleidigt hatte, sondern steckte die unverdiente Belohnung ein.
    So fing hier der Niedergang der Dienstleistungen an.
    Prahlte jemand um die Wette, konnte es nur ein Fremder sein, und das Land wiegelte mit beiden Händen beschwichtigend ab: »Komm herunter.« Bloß kein Überfliegen, sondern am Boden bleiben. Ein Untertreiber war seriös, ein Angeber verdächtig, ihm konnte man den Briefmarkenverkauf nicht anvertrauen. Jemand, der sich seiner Sache allzu sicher war, lebte hier einsam. Ganz ohne Briefmarken. Aufschneider, gefährlicher Egomane. Eine für Demokratie ungeeignete Spezies. Andere Länder kultivierten den Charme, doch Charme kann man nicht horten, man vergeudet ihn bei jeder Plauderei. Und was hat man davon? Nichts als emotionalen Schnörkelabfall und keine funktionierende Müllabfuhr . Hier dagegen verstand man sich darauf, allerlei Uncharmantes zu bewahren. Funktionieren ging über Charmieren.
    Noch mehr als Arbeitsscheue wurden solche Fremden verabscheut, die geölt und wissend sprachen, schnell von Begriff waren, erfinderisch und präzise zugleich und so unverfroren, all dies nicht zu verbergen und Chefposten zu besetzen. Hinter der abweisenden Maske entdeckte ich Minderwertigkeitsgefühle. Die Maske hieß Larve, eine verletzbare Larve im Entwicklungsstadium.
    Immerhin: Jemand mochte fremde Mädchen – nämlich Bedürftige, die alt, weiblich und krank waren. Wir überließen ihnen den Platz in der Straßenbahn, hoben den Rappen für sie auf, und Mara war einmal so kühn, eine Tür zu öffnen, als sie dahinter leises Stöhnen vernahm. Dort lag ihre umgefallene Nachbarin, und sie rief die Ambulanz. Mara hatte die gute Tat schon vergessen, doch hier ging nichts verloren. Die vom Tode Auferstandene beschenkte Mara Ostern für Ostern mit Geld und Schokolade.
    Im Treppenhaus der psychiatrischen Poliklinik hängt ein Kunstwerk: Großmaschige weiße Baumwollnetze schlängeln sich am Geländer über fünf Stockwerke hoch. Ich steige hinauf und denke an die schöne Metapher: Wir fangen euch auf.
    In einem fensterlosen Raum schluchzt eine Frau und beteuert, sie wolle gar nicht weinen. Sie schaut den Psychiater beschuldigend an, als sei er der Grund dafür. Er wehrt ab:
    »Sie können es nicht kontrollieren.«
    »Aber warum? Warum bekomme ich Schwindel vor den vollen Regalen im Supermarkt? Warum tun mir der Lärm der Straßenbahnen und laute Stimmen so weh?«
    Der junge Psychiater ist ein doppelter, dreifacher Fremder, sein überfrachteter Akzent setzt sich aus mehreren Sprachen zusammen. Es ist anstrengend, die Worte von seinem Akzent zu schälen, um sie zu verstehen. Das Krankenhaus ist eine große Werkstatt mit einer internationalen Handwerkermannschaft. Da wird ein Knochen gerichtet, da ein verbogener Gedanke.
    »Erscheint Ihnen alles unwirklich, wenn Sie diese Zustände haben?«
    Die Patientin schreit:
    »Es ist wirklich, Herr Doktor, glauben Sie es mir!«
    Es gelingt mir, in ihrer Verzweiflung Komik zu sehen. So fällt es mir leicht, mich vom Unglück des anderen zu lösen. Ich dolmetsche lustvoll, fasse die ausschweifenden Sätze der Patientin zusammen, werde zur Botschafterin der Klarheit.
    »Haben Sie Selbstmordgedanken?«, erkundigt sich der Psychiater beiläufig wie nach einem Schnupfen.
    »Aber Sie sperren mich nicht ein?«
    »Nein, nein.«
    Der Psychiater ist mal belustigter, mal verdrießlicher Zuschauer einer Tragikomödie. Aber es ist kein Theater. Es ist Dienst an der Entwirrung der Verwirrung. Im Inneren mag er über die Verrücktheiten lachen, sie abends gelangweilt seiner Ehefrau erzählen:

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