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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irena Brezna
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Ach, heute hatte ich wieder eine Panikerin, und dann zappt er durch die Fernsehkanäle.
    Die Patientin besinnt sich auf ihre frühere Stärke:
    »In meiner Heimat war ich Automechanikerin, ich liebe den Geruch des Benzins.«
    Der Psychiater bekommt wache Augen:
    »Was? Sie waren Automechanikerin?«
    »Aber ja, an Wochenenden fuhr ich auf meiner Honda durch die Gegend, gewann Rennen. Aber seit ich aufs Ohr gefallen bin, macht mich das Pfeifen und Dröhnen wahnsinnig, huhuhuhu. Schon vergesse ich alles. Warum
    vergesse ich alles?«
    »Ihre Kraft wird von den Ängsten absorbiert, darum.«
    »Sagen Sie, Herr Doktor, bin ich psychisch krank, oder macht das der Tinnitus mit mir?«
    »Der Tinnitus war der Auslöser, dann haben sich die Ängste verselbstständigt, sie bedingen sich gegenseitig.« Er verkeilt seine Finger ineinander und steht auf.
    »Jetzt ist Pause, dann machen wir die Blutentnahme.«
    »Ich habe vergessen zu sagen, dass ich geheiratet habe.«
    »Gratuliere.«
    »Er sagt, er liebe mich. Ich ziehe zu ihm aufs Land. Dort fährt keine Straßenbahn, vielleicht hilft es gegen den Schwindel.«
    »Ah, bestimmt.«
    Jetzt stürzt sich die Patientin auf mich, hält mir ihr verweintes Gesicht dicht vor die Nase und klagt so wuchtig, als berichte sie von Raub, Folter und Mord. Und es ist Raub, Folter und Mord. Der unsichtbare, grausame Täter kann jederzeit wieder sein Unwesen treiben, er lässt sie nicht aus dem Haus gehen, redet ihr ein, sie sei verrückt, und niemand eilt zu Hilfe. Die böse Welt.
    Ich renne die Treppen hinunter. Nein, die weißen Netze sind kein Kunstwerk. Sie sind echt. Auffangnetze für Selbstmörder.
    Wollte sich die Nachbarin von mir eine Scheuerbürste borgen, leitete sie ihre kühne Aktion mit einem unterwürfigen »Bitte« ein und schloss diese mit einer Kaskade aus »Mercidanke« ab. Mit »Bittemerci« hat sie mich tief verletzt, als wäre ich unfähig, zu geben, was das Herz verlangt – mal abgesehen davon, dass ich kein Scheuergerät besaß. Nein, sie kam niemals, um sich etwas zu borgen. Das habe ich mir nur gewünscht. Wie hätte sie denn zugeben können, eine Hausfrau habe ihre Bürste verlegt.
    »Bittemerci« hallte von überall her. »Bittemerci« machte mich traurig, es war ein Brett zwischen uns. Steht man nah aneinandergeschmiegt, vermag sich keine Floskel dazwischenzudrängen. Sie breitet sich nur in der formellen Leere aus. Wohin war die Dankbarkeit ausgewandert? Deren blutleere Doppelgängerin hatte sie ausgestochen. Schon Säuglinge wurden mit Kultiviertheit traktiert: »Bitte, hör auf!« »Bittemerci« war eine Scheuerbürste, die Gut und Böse verwischte. Sogar der Feind kam in die Gunst dieser magischen, angeblich friedensfördernden Formel. Der Unerwünschte wurde schriftlich mit großem Bedauern und hochachtungsvoll zum Teufel geschickt.
    Manch einer litt an einer Grußmanie, grüßte, wohin er auch kam, ob in der Sauna oder im Unterholz. »Grüezi« war nicht der erste Stein, der die Lawine ins Rollen bringt. »Grüezi« war keine Sucht nach Nähe. Wagte jemand darauf mit einem eigenen, verspielten Wort zu antworten, war es ein sich in die Tür stellendes Bein. »Grüezi« war nämlich nichts mehr als das an der Tür hängende Schild »Nicht stören!«. Eine Analphabetin war ich, brauchte Jahre, um diese zwei Worte lesen zu lernen. Dabei waren sie der Schlüssel zu meinem Gastland. Ein Schlüssel, mit dem kein Schloss zu öffnen war.
    Die Einheimischen wussten nicht, dass das Leben ein Kampf ist, sie hatten eine sanfte Mitbürgerin erwartet, die auf ihre ständigen Ermahnungen unentwegt Entschuldigung murmeln würde. Berührten sie jemanden ungewollt, entschuldigten sie sich überschwänglich. Erst in der Entschuldigung entdeckte ich einen Keim von Leidenschaft. Entschuldigten sie sich deshalb so gerne und oft? Entschuldigungen waren der Weichspüler. Sie sollten die mitmenschlichen Beziehungen geschmeidig machen. Am besten fuhr, wer sich schon präventiv absicherte: »Salü, exgüsi.«
    Statt: »Mach das Fenster zu«, sagten sie: »Entschuldigung, würde es dir etwas ausmachen, wärst du vielleicht so liebenswürdig und könntest du bitte das Fenster schließen? Das ist aber sehr nett von dir, merci vielmal, und ich wünsche dir ein recht schönes Wochenende.« Und es genügte nicht, den lästigen Schwall über sich ergehen zu lassen, es war angebracht, »Merci gleichfalls« zu erwidern. Jede Abweichung davon war ein Bürgerschreck und brachte die Höflichen gegen mich

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